Der Gesang der Haut - Roman
erkannte die majestätische Statur, die verkniffenen Augen hinter der randlosen Brille, die Wangenknochen, mit feinen, geplatzten Äderchen verunziert, und vor allem spürte er dessen Lebenskraft, seine beängstigend energische Ausstrahlung. Er hatte oft gedacht, sein Großvater sei für die Rolle böser Männer, Menschenfresser und stumpfsinniger Henker bestimmt, nach dem Krieg war er aber Arzt geworden. Viktors Vater auch. Der Doktor aus dem Traum schüttete aus den großen Taschen seines Kittels lauter kleine Farbfiguren aus Plastik oder Holz auf Viktors Bett und sagte, die Patienten warten auf Sie, Weber. Erfahrung, Mann, Erfahrung ist das A und O des Berufs. Viktor machte die Augen auf, und der Traum verflüchtigte sich. Von seinem Bett aus sah er, dass die Bäume mit einer frischen Schicht Schnee bedeckt waren. Jemand fegte den Bürgersteig frei.
Später Schnee, sagte Silvia Ritzefeld, bringt Ihnen bestimmt Glück! Es warten schon zwei Patienten auf Sie! Zwei alte Leute.
Lampenfieber?, kicherte Marion.
Die zwei Sprechstundenhilfen hatten einen Strauß Rosen und eine Flasche Sekt auf seinen Schreibtisch gestellt. Er lief wieder zum Empfang und bedankte sich schüchtern. Zurück im Sprechzimmer überfiel ihn ein schiefes Déjà-vu. Er stellte mit einem Kloß im Hals seine Tasche auf den Schreibtisch. Doch Lampenfieber? Die Prüfungsängste der Studentenzeit? Als die erste Patientin hereinkam, wusste er, dass sein Unbehagen mit der Angst vor Verantwortung zu tun hatte, mit der Verantwortung für alte Leute.
Er war sechzehn. Seine Eltern verreisten mit den jüngeren Geschwistern und hatten ihm die Großeltern und den Hund anvertraut. Jungen Menschen soll man früh genug Verantwortung übertragen, ein Motto des Vaters, der gern Erziehungsmaßnahmen mit den eigenen Freiheitswünschen vereinbarte. Der Großvater war kleiner geworden und saß in einem Rollstuhl, an dessen Griffen sich ein überforderter und einsamer Viktor festhielt. Die Osterferien hatten begonnen und seine besten Freunde waren weg. Er verabschiedete seine Eltern, die kleine Schwester Sophie und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Martin am Garagentor, wünschte ihnen alles Gute und verfluchte sie – und sich. Martin warf ihm nicht mal einen Abschiedsblick zu. Er fläzte sich auf die Hintersitze, wähnte sich schon auf den weißen Pisten. Den größeren, vernünftigeren Bruder mochte er nicht besonders, den Musterschüler, Omas Liebling. Die Mutter sagte, tschüss, mein guter Bub, der Vater, jetzt bist du der Chef. Und sie fuhren. Viktor, der Opa mit dem schiefen Mund, die gebrechliche Oma mit dem erstarrten Lächeln, alle drei winkten, der Hund bellte und hob die Hinterpfote. Viktor deckte den Frühstückstisch und trug Kaffee auf einem silbernen Tablett ins Wohnzimmer. Die Großmutter trottete hinter ihm her. Ihre Filzpantoffeln schlurften wie kranke Tiere auf dem Parkett und Viktor hasste sich: Es geschieht mir recht. Ich habe ein falsches Bild von mir vermittelt: der kluge Junge, der wie Papa und Großpapa Arzt werden will, die Eins in Latein, die Eins in Mathe, Physik, Biologie und Chemie, die Zwei plus in Sprachen, Religion, Kunst und Sport, der Überflieger, der brillenlose Streber, der gut aussehende Gutmensch, der seine Mitschüler immer abschreiben lässt und der Mutti beim Kochen und Spülen hilft und dem undankbaren Brüderchen Nachhilfe gibt. Kein ganz falsches Bild, nein, ein schräg verfälschtes Bild. Ein Reklamebild eben. Mein Leben ist eine einzige Werbung, ich werbe für die Lobby Mustersöhne und zukünftige Ärzte. Er sah den zittrigen Alten beim Frühstück zu und schluckte schwer: Das Leben war ihm auf einmal zu komplex. Jetzt saß er da, bei einem Großvater, der ihn als kleines Kind terrorisiert hatte und dem er jetzt auf die Toilette helfen musste. Und Viktor sagte zu dem Hund: Das Leben ist keine Klassenarbeit, irgendwann sind die Überflieger die verklebten Mücken. Viktor lernte also die erste wichtige Lektion seines Lebens: Je stärker du bist, desto mehr wird man dir aufladen. Danach versuchte er seinen Eifer zu dämpfen, wenn nicht in der Schule, dann wenigstens innerhalb der Familie, schaffte es aber nicht. Viktor blieb ein guter Bub.
Die erste Patientin seines selbständigen Lebens litt seit Jahren an einem atopischen Ekzem. Viktors Blick glitt über den Mittelscheitel im schlecht gefärbten Haar, er fuhr mit dem Daumen über die Stirn, deren Haut, gerötet und glänzend, sich hart wie ein eisenhaltiges Gestein
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