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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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anfühlte. Schon bei dieser ersten Geste fühlte sich Viktor wieder in seinem Element, selbstsicher, beinahe euphorisch, als er die Frau aber näher untersuchen wollte, machte sie selbst die Diagnose, er solle sich doch nicht anstrengen, sie wisse über alles Bescheid, über ihre genetische Veranlagung und Enzymdefekt, nein nein, Unsinn, sie leide nicht unter Stress, der Doktor Gerlach habe ihr schon alles haarklein erklärt, alle mögliche Tests habe sie hinter sich, sie wolle nur die Salben verschrieben bekommen, die ihr hülfen, die mit den Omegas 6, sagte sie, und die mit dem Cortison, und dann, lieber Doktor sind Sie mich los. Die Salbe mit den Omegas 6 habe ihr Doktor Gerlach immer mitgegeben. Und sie zeigte auf den Medikamentenschrank.
    Nach ihr folgte ein Patient auf den anderen. Ein unsympathisches Mädchen klagte aggressiv über Akne und verlangte eine Bescheinigung für die Schule. Er wollte sie fragen, warum sie nicht am Nachmittag nach dem Unterricht gekommen sei, aber ihr harter Blick und forscher Ton schüchterten ihn ein und er schrieb das Attest. Sein Vater hätte dem Mädchen bestimmt die Leviten gelesen. Die Schülerin warf ihr langes Haar nach hinten, sie belohnte ihn mit einem dankbaren Blick, der ihn versöhnte. Ich konnte doch nicht in diesem Zustand in die Schule gehen, sagte sie. Das sieht ja kacke aus. Ihr trotzig-knatschiger Ton brachte ihn zum Lächeln. Man sieht es doch kaum, sagte er, ein ganz klein bisschen zu spöttisch. Haben Sie eine Ahnung, kreischte die Pubertierende, plötzlich mit Tränen in den Augen. Und er lächelte sofort wieder verständnisvoll, legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie sehen trotzdem ganz nett aus, sagte er sanft. Ein neuer, misstrauischer Blick warnte ihn. Was bildete sie sich jetzt ein? Ach, Gott, er würde sich hier mit jugendlicher Psychologie mehr beschäftigen als im Krankenhaus, wo er nur ernsthafte Krankheiten behandelt, Hauttumore operiert hatte. Ein Mann wollte wissen, ob er die Praxis teuer bezahlt habe, ob er sie überhaupt gekauft habe oder ob er »zur Miete« sei. Der Mann litt unter Pilzen zwischen den Zehen. Das verdammte Schwimmbad. Er schüttelte voller Ekel seinen schuppenreichen Kopf. Mehrere Patienten gaben Viktor das Gefühl, dass sie ihn testen wollten, alle waren ehemalige Patienten von Doktor Gerlach, ja, sie wollten vergleichen. Viktor war freundlich, nahm sich viel Zeit, schaute, betastete, schnupperte nach böse aussehenden Wunden, schabte, nahm unter die Lupe und unter das Mikroskop, laserte, verarztete, bandagierte, überwies, gewann aber das Gefühl, er sei der eigentliche Patient der Besucher, die bis auf die Schulschwänzerin alle betagt waren, neugierig Fragen über seine Herkunft stellten und ihn sogar väterlich-mütterlich ermutigten, ihm Ratschläge gaben, immer betonend, wie gut sie Doktor Gerlach in Erinnerung behalten würden. Alle fanden es schade, dass er im Ruhestand war, so ein guter Arzt und so ein guter Mensch. Eine Dame betatschte ihn am Arm und meinte, er sei noch sehr jung. Er wusste nicht, ob es ein Vorwurf, ein Kompliment, eine bloße Feststellung war.
    Mittags machte er zwei Stunden Pause. Er kehrte in einem jugoslawischen Restaurant ein. Er hatte vom Zeitunglesen schon schwarze Fingerkuppen bekommen, als eine dicke Frau, wahrscheinlich die Köchin, das bestellte Gericht brachte und ihm ohne ein Lächeln guten Appetit wünschte. Salat, Spießchen und Fritten schmeckten ihm dafür hervorragend und er bestellte sofort sein Mittagessen für den nächsten Tag um ein Uhr dreißig.
    Um halb drei war er in der Praxis und eilte in sein Büro. Viktor wollte einige Unterlagen und Fachzeitschriften sichten, die Doktor Gerlach in einem Wandschrank vergessen oder für den Nachfolger als nützlich erachtet hatte.
    Auf seinem Schreibtisch lag die Post. Leo gratulierte mit einer Ansichtskarte (die Frankfurter Altstadt) zur Praxiseröffnung. »Ich hoffe, der Herr Doktor kommt an einem Wochenende nach Frankfurt zurück und wir können in Sachsenhausen die Sau raus lassen! Dein Leo.« Leos Krakel, Stiche der Nostalgie.
    Er machte sich dann an den hinteren Schrank und holte einige Mappen mit Rechnungskopien von Privatpatienten heraus, Patientendossiers mit Röntgenaufnahmen und Befundbescheiden der Klinik, mehr als fünfundzwanzig Jahre alte Leitz-Ordner aus der Zeit, als Gerlach keinen Computer besaß. Vielleicht hatte er sie für den Fall dagelassen, dass Patienten, die noch nicht digital erfasst waren, zu seinem Nachfolger

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