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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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Gerlach die Unterlagen zurückbringen? Aber nein, die Geschichte war wahrscheinlich längst vorbei und vergessen. Die Akte würde doch nur böses Blut in der Familie schaffen. Er sollte das Ganze wegschmeißen. Er stellte sich vor, er sei fünfzig, die Routine in der Praxis und in der Familie langweilig geworden. Er träfe eine Geliebte in seiner Mittagspause oder Mittwoch nachmittags, eine Patientin, eine Kollegin. Schon musste er lachen, weil die Mätresse seiner Fantasie wie Klara aussah: Klara würde er nie hintergehen. Man könnte sich aber gut vorstellen, Frau Henrietta Gerlach zu betrügen.
    Weitere Patienten nahmen ihn danach in Beschlag. Als er die Haut eines alten Mannes untersuchte, spürte er, wie das warme Glück zurückkehrte, das er immer wieder empfand, wenn er seine Hände auf die einsame Haut eines Patienten legte, der ganz ruhig wurde, sich dem leichtem Druck seiner flachen Hände hingab und entspannt, getrost dalag und mit ihm zusammen atmete.
    Schon neigte sich der Tag dem Ende zu, neue Flocken fielen und Viktor wünschte sich, der Frühling möge sich beeilen. Begleitet einen das Licht bis spät in den Abend, fühlt man sich weniger allein.

6
    A m selben Abend rief er Klara an. Als er sie einlud, piepste sie chromatisch ineinander übergehende kleine Triumphjauchzer. Bei ihrem Abschied hatte er angedeutet, drei Wochen lang allein verbringen zu wollen, er müsse sich vorerst auf seine neue Arbeit konzentrieren, einiges regeln, einfach zur Ruhe kommen. Des Stolzes wegen konnte sie nicht umhin, schnippisch zu fragen, ob er sich jetzt schon langweile, sein aufrichtiger Ton aber entwaffnete sie schnell: Fühle mich wie ein verlorener Däumling im düsteren Wald, sagte er mit kleinlauter Kleinjungestimme, du fehlst mir.
    Sie nannte ihn ab und an Däumling, nicht nur wegen seiner Schlankheit und seiner bescheidenen Größe – sie war zwei Zentimeter größer –, sondern weil er zwei magische Daumen besaß, die die richtigen Punkte fanden, die es zu drücken, zu streicheln, zu massieren galt. Ihr Körper übte eine große Anziehungskraft auf diese kundigen Hände aus, aber Viktor hatte einen Sinn für menschliche Haut im Allgemeinen, eine Faszination, die ihn zu seinem Fachgebiet berufen hatte. Ohne seinen Doktorpapa und seine ehrgeizige Frau Mutter wäre er vielleicht »nur« Masseur geworden. Lag sein rechter Daumen auf einem ausgewählten Punkt des Körpers, während die anderen Fingern auf der umliegenden Haut tippelten, oder strich er wiederholt mit der Handkante über die Haut, legte er beide Handflächen auf, zwickte er mit den Fingerspitzen, erinnerte es an die Gestik einer Klöpplerin, eines Malers, eines Klavierspielers, eines Gitarristen und eines Geliebten. Zehn Chorknaben improvisieren, sagte Klara, die seine Streichelkunst sehr genoss und glaubte, Viktor höre eine Haut atmen, singen und weinen. In der Tat war für ihn die Haut nicht nur ein Sinnesorgan, sondern ein himmlisches Gewölbe, die Wesen darunter die abtastbaren Ableger einer unergründlichen Gottheit, wie Meteoriten die Trümmer von Lichtjahren entfernten Sternen. Viktor war ein betender Dermatologe.
    Dann komme ich gern, rief sie begeistert darüber, gebraucht zu werden, glücklich, den geliebten Geliebten wiederzusehen, ganz beschwingt von dieser Tatsache: Freitag war schon in vier Tagen, und auch er war glücklich, sich und sie glücklich zu machen, erleichtert, es über sich gebracht zu haben, sie um Hilfe zu rufen, ohne dass der Hilferuf tatsächlich hörbar gewesen wäre, froh, dass Freitag in fünf Tagen war, und er machte sich an die mentale Liste der Vorbereitungen zu ihrem Besuch.
    Er lief in der unaufgeräumten Wohnung umher. Ihre Lieblingsorangenmarmelade kaufen, da sie keine Wurst zum Frühstück mochte, das Bett frisch beziehen, ins Opernprogramm schauen, oder doch lieber nicht, diese zwei Abende würden sie sich nur miteinander beschäftigen.
    Das Telefon klingelte, er dachte, Klara rufe ihn zurück, um etwas nachzufragen, vielleicht, was er sich als Mitbringsel aus Frankfurt wünsche, er hatte sich vorher nicht getraut, sie zu bitten, Frankfurter Würstchen mitzubringen, denn hier im Kölner Raum schmeckte ihm die Wurst weniger, aber in ihrer verliebten Plauderei hätten die profanen Würste eine falsche Note gesetzt. Er rief fröhlich ihren Namen, bevor sie den Mund aufmachen konnte, die Dame aber, keine Klara, sondern eine Frau mit der dünnen Stimme von Frau Gerlach, fragte ohne Umschweife, in einem Zug und

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