Der Gesang der Haut - Roman
Fachausdrücke, möglicherweise um Viktor zu demonstrieren, dass er noch über seine intellektuellen Fähigkeiten verfügte, eine Sprache jedenfalls, die seine Frau überforderte, die die Bedeutung eines Wortes nachfragte. Gerlach spitzte böse das Kinn in ihre Richtung: Misch dich nicht ein. Wir führen hier ein Fachgespräch unter Ärzten.
Ach so, zischte Frau Gerlach, das war mir entgangen. Sie pulte mit dem Daumennagel etwas aus ihrer Mittelfingerkralle: Möchten Sie noch von dem super Pudding?
Nein danke, nuschelte Viktor, es war hervorragend. Frau Gerlach stand auf, knipste eine Tischlampe an, als hätte sie gespürt, dass alle jetzt unbedingt mehr Licht brauchten.
Wir sind sehr froh, dass Sie die Praxis übernommen haben, sagte sie. Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, aber …
Das Gespräch verlief zähflüssig. Erst als Viktor seine Freundin Klara erwähnte – er hoffe, dass sie bald zu ihm nach Köln ziehen würde –, schien ein Thema gefunden, das die Gerlachs interessierte, die nach ihrem Alter, ihrem Beruf, ihrer Herkunft fragten. Frau Gerlach wollte ein Foto sehen, das Viktor gern aus seiner Brieftasche herauszog, die beiden bewunderten lange Klaras Bild, und Frau Gerlach sagte fast gerührt: Ein schönes Mädchen. Ich hoffe, wir werden sie kennenlernen. Aber sicher, entwich es Viktor, und er bereute es sofort. Ihre Klara, stellte Gerlach fest, sieht nicht wie eine Lehrerin aus. Ist sie auch nicht wirklich, sagte Viktor.
Ich bin der Gert, sagte Doktor Gerlach, als Viktor sich verabschiedete, ab jetzt sagen wir Du. Als Viktor die Wagentür öffnete, kam ein Boxer angerannt, den Gerlach zurückpfiff: Hierher Inkognito! Wir sind ganz lieb, sagte er.
4
H enrietta und Gert Gerlach saßen noch eine Weile im Salon. Ich wünsche, sagte Gerlach, dass wir den jungen Mann öfter einladen, und seine Freundin, ein bisschen Jugend im Haus könnte dir gut tun. Uns beiden, sagte Henrietta, ich nehme an, vor allem die Freundin interessiert dich. Aber gut, wir werden beide einladen, der junge Mann gefällt mir sehr.
Ich hoffe, nicht zu sehr, kicherte Gerlach. Und du bleibst schön bei mir.
Heuchler, als hättest du irgendeinen Zweifel, du willst nur von dir ablenken.
Und du hörst auf, so einen Unsinn zu verbreiten, sagte Gerlach.
Keine Ahnung, was du meinst, Herr Doktor. Er hob die Schultern und richtete die Augen zur Decke. Man hörte im Nebenzimmer das Pendeln der alten Standuhr.
Wir sollten, sagte Henrietta, diese bescheuerte Uhr abstellen, dieses Geräusch ist mir ein Gräuel. Ich bekomme Kopfschmerzen davon.
Wer tickt hier nicht richtig?, widersetzte sich Gerlach. Auf mich wirkt es beruhigend, ich würde es erst hören, wenn es nicht mehr da wäre. Aber ich stelle die Uhr ab, wenn du willst. Sie lächelte mit Tränen in den Augen: Du bist lieb. Sie stand auf, nahm die Hände ihres Mannes zwischen ihre und küsste sie. Wir bleiben für immer zusammen, nicht wahr? Und er, peinlich berührt: Was spielst du jetzt, die Geisha? Das passt doch gar nicht zu dir.
Ich spiele gar nicht.
Schade. Wir sollten mehr junge Leute einladen, auch diese Journalistin, Frau Sanderia, finde ich interessant.
Ach Gert, sobald du eine junge Frau hofieren kannst …
Jetzt wandte sie ihm ein angstvolles Gesicht zu. Die Pseudojournalistin Frau Sanderia hatte ihn am Nachmittag interviewt. Sie hatte tausend Fragen über Hautkrankheiten, über die tägliche Arbeit eines Dermatologen gestellt. Wie erquickt und aufgekratzt er war! Diese Person hatte etwas Hemmungsloses, als genügte es ihr nicht, eine hübsche Frau, eine Schwarze, eine Pseudojournalistin zu sein, als wäre sie eine Art bunter Vogel, der sich gierig auf jedermanns Schultern setzt, um ihm die Flöhe vom Kopf zu picken.
Strengt dich diese Frau nicht an?, fragte sie
Doch, das mag ich ja gerade, Frau Gerlach. Sollen wir die Nachrichten hören?
Nee. Ich finde, Nachrichten sind etwas für Wähler und Quatschtanten. Ich würde Helmut Kohl sowieso nie mehr wählen.
Er heißt jetzt Angela Merkel.
Schön, dass du das noch weißt. Ich wollte etwas anderes sagen.
Das wollen wir alle.
Sie senkte die Augen: Es war wieder Mittag. Gert kam vom Golfplatz, er blinzelte gegen die Wintersonne und erkannte sie nicht sofort. Er hatte ihr einen befremdlichen Blick zugeworfen, eine Sekunde nur, bevor er meinte: Ach, holst du mich ab? Hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie ihn abholen wollte? Je gravierender die Gedächtnislücken, desto geschickter wurde Gert in seiner
Weitere Kostenlose Bücher