Der Gesang der Haut - Roman
geradeaus wie ein ICE , ob er nicht am Samstagabend zum Essen kommen könne, sie und ihr Mann würden sich sehr freuen, einen Sauerbraten habe sie eingelegt, eine Spezialität des Rheinlands, die er unbedingt kennenlernen sollte, die leider aber in Restaurants immer seltener serviert werde. Klöße aus rohen Kartoffeln passten dazu, und da er sich in der Stadt wenig auskenne und außerdem mutterseelenallein sei, habe sie, Frau Gerlach, gedacht, und ihr Mann auch … und wie über das Wasser springende Kieselsteine warfen ihre letzten Worte weitere Kreise, plätscherten und versanken in Viktors Verlegenheit, ein Viktor, der erschrocken schwieg, ein Däumling, vom Menschenfresser beschnuppert und kaum atmend betend, nicht entdeckt zu werden, bitte verschone mich, liebe Menschenfresserin. Sind Sie noch da?, rief Frau Gerlach. Und Viktor verließ seine Deckung, ja, sagte er schüchtern, ja, ich bin noch da. Na, junger Mann, wie ist es? Sie sind doch noch frei am Samstag, oder? Das heißt, nicht wirklich, nahm sich Viktor zusammen, meine Freundin kommt zu Besuch, und …
Sehr schön, dann bringen Sie sie mit. Wir freuen uns, sie kennenzulernen. Und Viktor hörte, wie sie ihrem Mann im Hintergrund zurief: Gert, die Freundin von Herrn Weber wird dabei sein.
Viktor nahm jetzt im Hintergrund die Stimme von Doktor Gerlach wahr, konnte aber nicht wirklich hören, was gesagt wurde. Mein Mann meint, übertrug Frau Gerlach, ich soll Sie mit meinen Einladungen nicht belästigen, junge Leute wollen für sich sein. Nein, sagte Viktor, das meinte ich eben nicht, nur ist es so, dass wir … Und wieder entfernte sich die Stimme Frau Gerlachs, die aber in noch hörbarer Lautstärke sagte: Herr Weber freut sich auf unsere Einladung und er bringt uns seine Freundin mit. So erfuhr Viktor, dass er einer Einladung zugesagt hatte, die ihm bestimmt viel Ärger bringen würde.
Die telefonierende Frau Gerlach war eine andere als die Frau, die er in Fleisch und Blut erlebt hatte, eine schüchterne, die nur aufblühte, wenn ihre Gesprächspartner ihr nicht leibhaftig gegenüber standen.
(Moira)
J a, mein Viktor, spätestens an diesem Tag hättest du ihr ein klares Nein sagen sollen. Nein, liebe Frau Gerlach, ich weiß, dass Sie es gut meinen, aber der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht böse sein, ich will mit meiner Klara allein Kölsch trinken, früh ins Bett und sie in der Missionarsstellung lieben (ich würde wetten, deine Lieblingsstellung), bis zum Versagen unserer Kräfte. Frau Gerlach, mein Mund schreit gierig nach ihren kleinen Brüsten, meine Hüften wollen den Druck ihrer Hände spüren, mein Blick muss tief in ihre blauen Augen sinken und ertränken, was er an Hässlichem bis Ende der Woche gesehen haben wird. Ich verstehe Ihre Zukunftsangst, Ihren Horror vor Alzheimer, falls Ihr Gert Alzheimer hat und nicht Sie. Ja, Sie tun mir leid, aber wir sind jung, gesund, noch glücklich und wollen ganz egoistisch am Samstag frei atmen können, irgendwohin essen gehen, nicht unbedingt einen Sauerbraten. Frau Gerlach, ich fürchte mich vor Ihnen, Sie wollen uns in Beschlag nehmen, Sie wollen uns im dunklen Wald Ihrer Einsamkeit einsperren. Lassen Sie uns in Ruhe, zwingen Sie mich nicht, trotz meiner guten Erziehung dämliche Notlügen zu erfinden, um Ihren Einladungen auszuweichen. Denn ich, Viktor Weber … Aber konntest du denn ich sagen, ein Wort, bei dir so kurz und leicht wie eines der Härchen, die ich zupfe, versuch’s mal, eine Silbe nur, sag: ich, ich, ich, und ich höre dabei deinen Frankfurter Akzent, isch, isch, isch, kannst du’s oder hat sich dein Ich via Däumchen in die Haut deiner Patienten vergraben? Oder hat es deine Mutti mit der Schere klein geschnipselt oder dein Großvater es weggepeitscht, dein Papa es nach seinem Gusto verdreht, umgedreht, so dass du es nur zu einem schii herauspustest …
Quatsch! Ichsagen widerstrebt deinem Ich, das sich sofort igelhaft zusammenrollt und jedermann erlaubt, es mit Stöcken umzudrehen, denn dein Ich ist ein dienstleistendes Ich, mein Viktor, ein schwaches, nicht neinsagendes Ichchen, also hätte nur ein verfälschtes Ich aus deinem Mund Ich sprechen können, eine Unmöglichkeit, denn dein Schicksal ist nicht das eines Lügners. Man kann kein anderes Ich annehmen als sein eigenes, ach, so ein Schiet, mein Schatz.
Gerlachs haben dich im Netz. Zappeln nützt nicht.
7
S chon wieder dieser Fischer. Er würde sie nie in Ruhe lassen. Hören Sie bitte auf, uns zu
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