Der Gesang der Haut - Roman
Schicksal, hatte ihr Gert erklärt, es geht um unsere Haut an sich. Um Hautkrankheiten? Um alles, um Hautreflexe, um Narben als Lebenszeugen, es geht um unser Fell, um die Schuppen, um kosmetische Versuche und dass ein Mensch sich häuten kann. Ach, es geht euch um die Haut. Und warum schaut sie sich so was nicht im Internet an, diese Frau Sanderia? Warum kommt sie ausgerechnet zu dir? Seit wann bist du ein Google-Fan?, lachte Gert, warum soll sie nicht zu mir kommen? Sie war meine Patientin, wohnt nicht weit von meiner Praxis, Viktors Praxis, korrigierte Henrietta, ja, genau, sagte er, sie wird bestimmt auch den Jungen fragen. Den Jungen? Meinst du Doktor Weber? Miss Sanderia sucht noch nach Inspirationsquellen, sagte Gert, ich helfe ihr gern, ihrem Thema auf die Spur zu kommen. Du bist also ihre Inspirationsquelle, Gert? Wäre es nicht möglich, dass sie dir auf der Spur ist?
Ach Gott, sagte er sehr langsam, als müsste er jedes Wort abwägen, Henrietta, deine Eifersucht, deine Eifersucht ist der Schwanz aus Töpfen, die man an den Wagen der Brautleute bindet. Der blechert und scheppert durch unsere ganze Ehe und unterhöhlt meinen guten Willen.
Sie schwieg.
Ich helfe ihr nur, ich habe sonst nichts zu tun. Gönnst du mir die kleine Abwechslung nicht?
Aber doch, es macht mir nur Angst, sie sollte keinen Film über dich machen, irgendetwas macht mir Angst.
Ihr machte alles Angst. Der Gedanke an Fischer, ein bösartiges Geschwür. Es wucherte in ihrem Kopf wie ein giftiger Blumenkohl, hinterließ einen schalen Geschmack im Mund. Ein Druck auf der Brust raubte ihr den Atem. Mit wem könnte sie darüber sprechen?
Der Abschied der Journalistin dauerte eine Ewigkeit, durch die angelehnte Tür nahm sie die beiden nur schemenhaft wahr, hier zwei Hände, dort ein Ellbogen, eine schmale Länge Kleid wie ein Sonnenstrahl, ein Lachen, Gert lachte, Henrietta schrumpfte zusammen, zog an ihrer grauen Wolljacke, sah sich als dunkles Insekt, als schwarze Spinne, ich bin nichts, ich zähle nicht, lieber Gott, lass mich wachsen, lass mich sichtbar werden, wer bin ich denn noch, diese Frau nimmt ihn mir, alle tun das. Sie atmete tief durch und floh in die Haut der mütterlichen Ehefrau, die ihrem Mann die Bürden und Ärgernissen des Lebens abnahm, die warmherzige Henrietta, die in der Praxis herumlief, diese Henrietta war jemand, nein, nein, Erinnerungen taugten nichts, Fantasie half mehr, so erweckte sie die Henrietta aus einem Groschenroman, die erhaben über Felder und Moore galoppierte, so kraftvoll und frei hätte sie mit zwanzig bleiben können, dies nach einem dreimonatigen Aufenthalt als Au-pair-Mädchen in England, wenn sie den Mut gehabt hätte, Deutschland und ihren Eltern den Rücken zu kehren, aber die Fata Morgana des reitenden Mädchens verblasste auch, und dafür tauchte ein verhasstes Bild auf, das ihr manchmal nachts die Lider spreizte, eine kleine Figur, deren Gesicht unter einem schwarzen Sack atmet: Die Person steht reglos an einer Wand, ist sie das oder ist sie das Kind, dessen Spinnenbeine aus einem kleinen Trägerrock herausgucken, es läuft an dieser Erscheinung vorbei, nur nicht hinschauen, es trottet weiter auf dem Betonboden einer Diele, eher einem langen, vergitterten Gang, wie sie es von dem Stadtgefängnis kannte, wo ihr Vater arbeitete.
Die Eingangstür schlug zu, der Albtraum zerplatzte. Der Eindringling ist weg. Ich bin ich, seine Frau. Er braucht mich. Sie hörte die schweren Schritte ihres Mannes auf sich zukommen. Wir gehören zusammen. Auch wenn diese monströse Krankheit sein Hirn auffressen würde, hielte sie zu ihm, liebte ihn noch, auch wenn diese Liebe sich von Gerts Schatten ernähren sollte, von dem, was er nicht mehr war, nicht mehr sein konnte, von dem, was er nicht mehr dachte, nicht mehr sagte, denn er hatte dieses gedacht und gesagt, seiner Mutter ins Gesicht geworfen, damals, vor mehr als dreißig Jahren, als sie beide zu Besuch bei seinen Eltern waren, er hatte ihn gesagt und gedacht, diesen Satz, von dem sie heute noch zehren kann, damals als sie hinter der Tür ein Glück für das Leben anzapfte.
8
D ie Kölner feierten Karneval. Das Wartezimmer blieb fast leer. Man würde Viktor erst nach den verrückten Tagen besuchen, wenn die Fress- und Alkoholexzesse ihnen an die Haut gehen und ein Waterloo der Organe und Drüsen stattfinden, wenn Unreinheiten und eitrige Angelegenheiten die Poren überschwemmen würden wie Meeresmüll die Strände nach der Flut.
Viktor nahm sich
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