Der Gesang der Haut - Roman
viel Zeit für zwei nicht karnevalistische Patienten, darunter eine Frau Necker, frisch pensionierte Lehrerin mit dem altmodischen Vornamen Violette. Er solle ihre Altersflecken auf den Wangenknochen weglasern. Er legte eine Hand unter ihr Kinn, und mit der anderen streifte er ihr das Haar aus der Stirn. Er spürte, wie sie zusammenzuckte, ein Zucken älterer Frauen, die man lange Zeit nicht mehr berührt hat, er untersuchte jene kleine Fleckchen sorgfältig, fuhr auch mit der Fingerkuppe darüber, neigte sich den Wangen zu und glaubte, das Knistern des gefärbten Haares zu hören. Er beobachtete die geschlossenen Lider, ungeschminkt und seidig unter dem Finger. Die Haut war hier menschlicher und feiner, als wäre nichts samtig und glänzend genug, um müde Augen zu beschirmen. Wissen Sie, dass ein Altersfleck in der Medizinersprache Lentigo solaris heißt? Ein viel schönerer Name nicht wahr? Wissen Sie, sagte die Lehrerin, dass ein Altersfleck im Französischen Fleur de cimetière, Friedhofsblume, heißt? Er laserte Violetta Necker die Altersflecken aus dem Gesicht und machte die Praxis zu. Er wollte jetzt nur noch an seine Freundin denken.
Sie war die Tochter eines tschechischen Saxofonisten, der zur Zeit des kalten Krieges ein Mendelssohn-Konzert in Paris genutzt hatte, um ganz klassisch seinem Land den Rücken zuzukehren. Ihre Mutter, eine deutsche Journalistin, hatte sich beim ersten Interview mit dem Flüchtling in ihn verliebt. Sie lebten beide in Berlin. Klara, die zweite ihrer vier Töchter, hatte fünf Semester an der Musikhochschule Frankfurt Klavier und Gesang studiert, ohne nennenswerte Unterstützung der Eltern, die beide vor den Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Überlebenskämpfen eines selbständigen Künstlerlebens warnten und für die Töchter eine sicherere Laufbahn anstrebten, ein Leben, in dem die Musik eine risikolose Leidenschaft blieb, eine lebenslange Freude ohne Muss und Furcht, am Hungertuch nagen zu müssen, ohne Speichelleckerei, um die Aufmerksamkeit der Produzenten und der Medien zu gewinnen. Klara schlug sich durch, besuchte ihre Eltern kaum, denen sie alles Mögliche vorwarf, sie seien gleichermaßen irrational und zu vernünftig, zu lasch und zu streng, zu bürgerlich und zu verrückt, zu besitzergreifend und zu gleichgültig gewesen, sie hätten die Schwestern bevorzugt, die braven, die Flöte, Geige und Bass spielten, aber Jura oder BWL studierten. Sie ertrug diese Eltern gar nicht mehr, die ihr die Zukunft als Musikerin so düster ausmalten und sich als abschreckende Beispiele gaben, als Vogelscheuchen fungieren wollten, ja so wenig Schneid bewiesen: Sogar das Stofftaschentuch des Vaters erschien wie ein falsches politisches Bekenntnis, der Lippenstift der Mutter ein lächelnder Verrat, die Art, Gabel und Messer zu halten, symptomatisch für gewöhnliche Geister und jeder Satz eine öde Wiederholung des zigfach Wiederholten. Um Abstand zu gewinnen, entschied sie zu verreisen, unterbrach ihr Studium und fuhr nach Paris, sang a capella in der Metro und verdiente dabei bald so gut wie ihr Vater im Symphonieorchester. Leider wurde sie von keinem Produzenten, keinem Regisseur entdeckt, nur von Viktor, der einen Kurzurlaub in Paris verbrachte, auf dem Weg zum Hotel in der Station St. Michel stehenblieb und ab da seine übrige Zeit ausschließlich unterirdisch verbrachte. Sie kehrten zusammen nach Frankfurt zurück, Klara versöhnte sich mit ihren Eltern und entschied sich für ein Studium von Musik auf Lehramt. Die Zukunft roch nach Flieder. Klaras Eltern beteten Viktor an, einen Verbündeten, einen Retter der verlorenen Tochter.
Das Zifferblatt zeigte neunzehn Uhr fünfundvierzig und, obwohl sich der Februar seinem Ende zuneigte, gab das Thermometer minus zwei Grad an. Ein Schneefilm lag auf Bäumen und Dächern, deren Umrisse in der Dunkelheit wie auf einem alten Schwarz-Weiß-Streifen vorgeführt wurden. Auf dem feuchten Biotop des Bahnhofs kreischte sich eine Masse von Karnevalisten warm. Viktor geriet in die Zange von rabiaten Jecken, die ihn an den Armen packten und wild schaukelten, jedoch, Gott sei Dank, bald das Interesse an ihm verloren, er machte einen großen Bogen um Betrunkene, schlängelte sich durch eine Alaaf schreiende Meute, stieg zielstrebig zum Gleis, wo er von einem Fuß auf den anderen tänzelnd fror und auf die dumpf tönenden Ankündigungen der verspäteten Züge lauschte. Als er müde die Augen kurz zumachte, sah er die Altersflecken von Frau Necker
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