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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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belästigen, sagte sie. Sie legte brutal den Hörer auf, hoffte, dass der Krach die Gedanken ihres unsichtbaren Gesprächspartners zum Bersten brachte, dass er sich daran verschluckte, erstickte, im Kot hinfiel, krepierte.
    Sie beobachtete ihren Mann, der in sehr gerader Haltung und mit einem breiten Lächeln Frau Sanderia zur Tür hinausbegleitete. Er hatte sich in Schale geworfen, seine Pantoffeln durch Mokassins ersetzt und einen Schal um den Hals in den Hemdkragen gesteckt. Durch den Türspalt beobachtete sie, wie ein gesunder, charmanter, witziger älterer Herr einen Balztanz aufführte, zum Abschied die Hände der jungen Frau mit seinen umschloss, sich leicht bückte, ein angedeuteter Handkuss. Sein Schauspieltalent.
    Eine Rückblende: Gert spielt den Arzt im Theater. Mit Kollegen haben sie eine brüchige Schauspielbühne in einem Restaurant renoviert und eine Gruppe gebildet, Die Namenlosen. Sie spielen zweimal im Jahr alten Klamauk oder selbstgeschriebene Possen; alles rankt sich um das Thema Ärzte und Patienten. Kein Thema wird ausgeklammert, kein Spaß ausgelassen, man ergötzt sich an der Selbstdiffamierung als Garantie der eigenen Unschuld, man schreibt Tabus in den Wind, es gibt geile, geldgierige Kurpfuscher, falsche Ärzte, Nymphomaninnen unter der Schwesterntracht, Idioten in blutbefleckten Kitteln, Zyniker, Visionäre, Hellseher, Hysteriker, eingebildete Kranke in allen Variationen, einen stotternden Arzt, der sich verhaspelt, die Silben vertauscht, die Angehörigen so lange nervt, dass sie »endlich!« von sich geben, als sie die Todesnachricht hören, eine Patchworkwelt von Stereotypen, bekannten Gags und lustigen Einfällen, alles hemmungslos verknüpft. Jeder Zuschauer erwartet den Auftritt seines Arztes, seiner Praxishelferin. Henrietta macht mit, nicht als Schauspielerin, dafür fehlt die Begabung, sich zu verstellen, aber ihr Bandoneon kommt öfter zum Einsatz, mit ihrem Mann den Spaß zu teilen, alles zu teilen, ist ein nie gestilltes Bedürfnis. Sie gehört zu ihm, er zu ihr. Ihre Eifersucht hält sich noch in Grenzen, es zwickt höchstens ein bisschen, wenn eine der Laienschauspielerinnen von ihrem Mann geküsst wird, die Rolle will es ja so, sie senkt den Blick auf ihr Bandoneon. Könnte man nicht so tun, als ob? Nee, man könnte nicht. Sie wird ihm selbst den Lippenstift aus den Mundwinkeln abwischen. Man trifft sich einmal die Woche zum Proben, man verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen: Der Ertrag der Benefizveranstaltungen geht an Médecins Sans Frontières, später an Ärzte ohne Grenzen. Gert ist der beste Darsteller. Er liebt zynische Rollen, auch die von smarten Don Juans, es kümmert ihn nicht, dass seine natürliche Begabung manchen zu der Schlussfolgerung verleiten könnte, er spiele sich selbst.
    Eine Hand an ihrem Hals, sie kann kaum noch schlucken: Dieser Fischer wird sie umbringen oder sie ihn. Wenn sie wenigstens mit ihrem Mann offen darüber sprechen könnte! Er aber lacht sie aus, alles wird gut, Frau, alles wird gut. Sie hasste es, so genannt zu werden. Frau!
    Und jetzt verabschiedete er sich von der Sanderia, und Henrietta schob die Tür zu, nein, nicht ganz, die Tür blieb immer noch einen Spalt offen, sie sah noch, wie die Journalistin in ihrem gelben Kleid gestikulierte, eine ausdrucksstarke Frau, eine Puppenspielerin, ein Fluglotse, was mimte sie denn mit gehobenen Armen? Gerts schallendes Lachen! Die junge Frau hatte ein Aufnahmegerät mitgebracht und den ganzen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer gesessen, sie, Henrietta, hatte flüchtig versucht, an der Tür zu horchen, taub für die früheren Ermahnungen ihrer Mutter: Horcher an der Wand hört seine eigene Schand, sich doch bald zur Ordnung gerufen und im Wohnzimmer den Fernseher angeschaltet, sich durch die Kanäle gezappt, Werbung machte einen wahnsinnig, in Krimis traf man auf lauter Ludo Fischer, Liebesgeschichten waren für Zurückgebliebene geschrieben worden, sie hatte einen Reiseroman aufgeschlagen, aber ihre eigene Geschichte füllte ihren Kopf und ließ keinen Platz für fremde Schicksale.
    Was fragte diese Sanderia? Ging es um Statistiken? Wie viele Leben rettet ein Hautarzt in seiner Laufbahn? Wie oft wird ein Melanom diagnostiziert? Wie hoch ist die Anzahl der männlichen Patienten? Vielleicht wollte sie eine Einführung in die Beschaffenheit der Haut? Wollte sie wirklich einen Film über Dermatologen drehen? Komische Idee. Es geht nicht nur um Dermatologen, es geht uns um die Haut und deren

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