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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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könne. Viktor bedankte sich, erzählte nichts, legte so schnell wie möglich auf. Er spürte die Enttäuschung des Älteren.
    Sobald er abends oder mittags frei wurde und auch manchmal zwischendurch, wenn der Warteraum leer war, lief er eine Runde im Wald. Seine Jogginghose und seine ausgetretenen Turnschuhe warteten griffbereit in der Garderobe der Praxis und gaben ihm ein Heimatgefühl. Der trockene Schlamm unter den Sohlen zerbröckelte auf der Ablage der Garderobe.
    Zwischen den kahlen Zweigen der Bäume schimmerte ein helleres Licht, die Sonne wärmte ihm leicht das Gesicht; zwischen dem gelb leuchtenden Altgras drängte sich grünes. Viktor genoss diese Zwischenzeit zwischen Schneeglöckchen und Tulpen, die Vorzeichen des echten Frühlings, der mit seinen Regengüssen und Eisheiligen oft enttäuschte, bevor seine Frische so schnell der Schwüle und den dunklen Baumkronen des Sommers wich. Wenn er aufhörte zu laufen, wenn sein Herz sich beruhigte und das Blut in seinen Ohren nicht mehr rauschte, hielt er eine Weile inne und horchte auf das Piepsen, Zwitschern, Pfeifen der Meisen, Finken oder Tauben, in seinem Kopf verstummten alle anderen Stimmen, und die geschäftigen Vögel steckten eine neue, sonnenklare Welt ab, wo sich der Geist frei bewegte.
    Er kreuzte den Weg von Spaziergängern, die ihm inzwischen fast vertraut waren: der Alte in Begleitung seines Sohnes mit dem Downsyndrom, die vier Frauen, vielleicht Angestellte eines Tierheims, jede mit zwei oder drei Schäferhunden an der Leine, die verschwitzte junge Frau, die joggte. Viktor grüßte sie und lief auf den längst schwarz gewordenen Herbstblättern, die Schlamm auf seine Jogginghose spritzen, aber aus den Augenwinkeln sah er rosa Streifen am Himmel.
    Zwei Wochen später konnte er sich über einen Tag freuen, an dem sein Wartezimmer keine Minute leer geblieben war. Sich kratzende Patienten, gerötete Gesichter, harmlose Fälle bis auf einen Syphilispatienten, der, von seinem Hausarzt geschickt, aus den Wolken fiel, als Viktor ihm die Diagnose vorlegte. Eine ältere Dame, Frau Hirsch hieß sie, fürchtete, die Krätze bekommen zu haben. Sie habe eine Haushaltshilfe aus Afrika, es sei doch möglich, dass diese Frau sie angesteckt habe, oder? Auf die Frage, ob die Putzfrau dieselben Symptome wie sie habe, kam eine umständliche Antwort. Sie habe schwarze Hände, auf denen man nicht viel erkennen könne. Sie würde sich aber auch sehr viel kratzen. Viktor beruhigte sie vorerst, sie habe keine Krätze, und außerdem sei Krätze keine typisch afrikanische Krankheit. Frau Hirsch streckte ihr faltiges Gesichtchen zu ihm hoch, und Viktor versuchte ihren sonderbar unsteten Blick einzufangen, einen springenden Blick, der die lakritzschwarzen Pupillen mal nach unten, mal nach oben gleiten ließ. Mit welchen Krankheiten können die uns denn anstecken?, fragte sie. Die Pest, antwortete er ruhig, und auch die Lepra ist noch aktiv und, Frau Hirsch, wenn ich Ihre Hand genauer betrachte, na ja, da könnte ich Lepra nicht ausschließen. Er hatte dabei schelmisch gelächelt, spürte aber, wie diese Hand sich versteifte und zu einem einzigen harten Knoten wurde, als sie aufschrie, was sagen Sie da? Er zog die Latexhandschuhe aus und drückte ihr sanft die juckende Hand: Sie sind völlig gesund. Und angesichts ihrer wütenden Miene: Warum haben Sie eine schwarze Haushälterin, wenn Sie vor ihr solche Angst haben? Sie ist die Exfrau meines Sohnes, sagte sie, sie kümmert sich um die Wohnung, weil ich mich schlecht bücken kann, ich hatte einen Bandscheibenvorfall, meine Kraft lässt nach. Wir wohnen zusammen. Wir benutzen dasselbe Bad, und manchmal frage ich mich. Die an sich selbst gerichtete Frage blieb ihr im Hals stecken. Sie schüttelte den Kopf: Das war nicht nett von Ihnen, Herr Doktor Weber. Macht man sich so über eine alte Frau lustig? Und wenn die alte Frau spinnt?, fragte er und neigte sich zu ihr. Seine junge Stimme hatte väterliche Akzente. Er konnte sich mit dem warmen Ton und dem warmen Händedruck fast alles erlauben. Ihre Hand ist doch völlig gesund, Frau Hirsch. Sie haben eine sehr dünne und trockene Haut, im Alter keine Seltenheit, und Sie sind ein Nervenbündel. Sie sollten aufhören sich ständig zu kratzen. Sie fügen sich selbst die Wunden zu. Ich verschreibe Ihnen eine gute Salbe, einverstanden? Noch böse? Aber nein, sagte die Frau, die noch ein bisschen schief lächelte, aber sich sichtlich freute, als Nervenbündel anerkannt zu werden, Humor

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