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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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dahin eine neue Stelle finden, dann habe er eben Pech gehabt. Die junge Frau sah ihn entgeistert an, sagte mit veränderter Stimme, es sei so okay. Sie tat ihm leid, das schlichte Okay rührte ihn, es war bei jeder Gelegenheit okay, das Schlimmste auch. Er wusste, dass sie zusätzlich zu ihrer Ausbildung bei alten Leuten half, bei jüngeren als Babysitterin arbeitete und mit diesen mageren Einkünften sogar ihre Eltern unterstützte. Aber für Marion war es okay, auch am Ende des Tages KO zu sein. Manchmal war für sie auch alles Scheiße. Das Leben balancierte zwischen Okay und Scheiße. Es waren knapp zwölf Jahre, die sie trennten, und trotzdem fühlte er sich einer viel älteren Generation zugehörig. Und auf einmal die Frage: Klara hatte recht, wozu hatten sie eigentlich noch Zeit?
    Er rief sie jeden Abend an und schlug vor, am nächsten Wochenende nach Frankfurt zu fahren, lieber nicht, sagte sie, sie habe zu viel für die Schule zu tun und sie brauche ein Wochenende für sich allein, sonst schaffe sie ihr Arbeitspensum nicht mehr. Auch das Wochenende darauf könnten sie sich nicht sehen, sie übe für den Tag der offenen Tür ein kleines Konzert mit Schülern ein. Viktor wiederholte betrübt »Tag der offener Tür« und rutschte in einen Abgrund. Klara klagte wieder über die undisziplinierten Schüler (sie sagte: Chaoten, kleine Scheißer) und die Lehrpläne und die Schulleitung, wetterte auch gegen eine Kollegin, die sie bei dem Konzert unterstützten wollte und es doch nicht tat. Diese Klagen verdeckten, keine Frage, einen anderen, noch verschwiegenen Frust, den er deutlich heraushörte, als sie nach Luft japste; er aber reagierte nicht, war damit beschäftigt, aus dem eigenen Abgrund hochzuklettern, Klara, die ihn nicht sehen wollte, das war eine Premiere, die ihn durcheinanderbrachte. Auf eine Grundsatzdiskussion am Telefon wollte er sich nicht einlassen.
    Für Samstagmittag lud er Silvia Ritzefeld und Marion Haas zum Mittagessen ein. Sie fuhren in die Altstadt und suchten ein Restaurant auf, wo Stoffservietten als Schiffchen gefaltet waren und er den Wein in seinem Glas kreisen ließ, bevor er dem Kellner zunickte. Marion übte, das Serviettenschiffchen auseinander- und wieder zusammenzufalten, auch eine von Klaras Angewohnheiten in Restaurants. Schnell kamen die beiden Frauen in Stimmung, der Doktor Gerlach, sagte Silvia, sei schon ein komischer Kauz gewesen, doch ein großzügiger Chef. Ach, unser Gerti, seufzte Marion und lachte auf, vielleicht nur vom Wein angeheitert. Sie tauschten amüsierte Blicke und Viktor verstand, dass er ihnen jetzt kleine oder große Geheimnisse entlocken sollte. Er tat es lieber nicht, versuchte ständig Klaras Gesicht zu verscheuchen, die quälende Frage nach ihrem Stimmungsumschwung zu verdrängen. Und gerade fragte ihn Marion aus: Ob er eine Freundin hier oder in Frankfurt habe? Ja, sagte Viktor, am Ende des Schuljahrs wird sie auch hierher ziehen. Schon fragten die Frauen weiter, nach seinen Eltern, seinen Geschwistern, und ob er schon immer Arzt hatte werden wollen, und warum Dermatologe. Mein Großvater war Allgemeinarzt, mein Vater ist es noch, sagte Viktor, ich bin nur einen vorgezeichneten Weg gegangen. Bei Fuß!, hörten sie am Nebentisch. Ein Boxer verschwand unter der langen Tischdecke. Er wird nicht stören, behauptete sein Herrchen, der, Gott sei Dank, nicht Gerlach war. Und die Dermatologie, fuhr Viktor fort und erinnerte sich, wie die Hände von Gerlach und Klara sich auf dem Rücken von Inkognito gefunden hatten, na ja, die Dermatologie ist meine eigene Wahl, hm, was ich daran finde? Dieses Fach umfasst ein breites Gebiet, das nicht so begrenzt ist wie zum Beispiel das des Ophtalmologen. Aber ich bin ein optischer Mensch. Ich kann gut sehen, gut erkennen und unterscheiden. Ach ja, sagte Marion. Er wollte mehr über seine Berufswahl erzählen, Dinge, die Klara immer gut gefallen hatten, über die Haut als Sinnesorgan und über ihn selbst als sinnlichen Mensch, gern hätte er gesagt, dass er die Haut schon immer liebte, und deren Abwandlungen von einem Menschen zum nächsten, von einer Körperstelle zur nächsten, ja, und die Veränderungen des Alters, die Haut als Universum, als Karte der Jahre. Er schwieg, wollte nicht emphatisch oder dümmlich klingen, gib dir keine Blöße, brummte ihm sein Vater ins Ohr, sei schlicht, rational, professionell. Ein Arzt ist kein Poet, sagte seine Mutter. Gern hätte er aber mehr von der Haut mitgeteilt, Haut, ein Wort, das

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