Der Gesang der Haut - Roman
ihm immer viel zu kurz erschien, um diesen meterweiten Umschlag unseres Körpers zu bezeichnen und dessen unendliche Variationen. Halte jetzt keinen Vortrag, grinste Klara. Ihre Freundin kommt Sie bestimmt öfter besuchen, sagte Silvia. Ja, ich kann auch am Wochenende nach Frankfurt, so muss nicht nur sie reisen. Und beinahe hätte er zugegeben: Ich habe euch heute nicht nur eingeladen, weil es irgendwann fällig gewesen wäre, sondern weil ich nicht allein sein kann, nicht zurzeit. Silvia hatte ihre Gabel abgelegt und ließ die Finger zwischen die Fransen ihres Schals gleiten. Sie mögen Ihren Beruf, das sieht man Ihnen an, sagte sie. Er versuchte distanziert zu sprechen: Ja, die Dermatologie sei ein sehr interessantes Gebiet, die Haut die äußerste Schicht des Menschen wie der Humus und seine Flora für die Erde. Und gern beobachte er die Welt der Derma unter dem Dermatoskop, sogar unter der Lupe. Und die sandfarbigen Rücken der Menschen, das Relief der Bauchdecke, die feine Struktur eines Lides, die Runzeln des Gesichts seien für ihn unerschöpfliche Landschaften. Ich mag es sehr, wenn du von der Haut schwärmst, hatte früher Klara gesagt, deren Haut makellos war. Na ja, dann Prost, lachte Marion, vielleicht geben Sie meinem Freund Nachhilfe, betrachten kann er nicht so gut wie grapschen. Was ich klasse finde, ist, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das nackt sein kann. Und der Wurm, warf Silvia ein. Nein, wer sich nicht ausziehen kann, ist nicht nackt, lachte wieder Marion, du bist nur scharf auf deinen Typ, weil du ihn aus den Klamotten pellen kannst. Marion hatte lila Augen, am Hals und in der Beuge ihrer gebräunten Arme waren ihre Venen gut sichtbar. Ihre Ohrläppchen wurden von schweren Ringen nach unten gezogen, die ihr Viktor am liebsten konfisziert hätte. Sie haben also einen Freund, Marion?, fragte Viktor, und wie ist er so? Tätowiert! Auf dem Rücken, erklärte das Mädchen. Der Doktor Gerlach ist manchmal in die Schulen gegangen, er sprach mit den Kids über die Gefahren der UV -Bestrahlung und über das Tätowieren, manche tätowieren ja, als hätten sie mehrere Häute zum Wechseln. Jugendliche überschreiten gern Grenzen, sagte Viktor, unsere Haut ist aber eine Grenze, die man schonen muss, das ist nicht allen bewusst. Er schnitt ein Stückchen Fleisch ab, ärgerte sich, dass er den lehrerhaften Ton angenommen hatte, der seinen Bruder, dem er Nachhilfe gegeben hatte, anwiderte. Gerlach ist früher auch in die Schule meines Freundes gegangen, nach seinem Vortrag hat sich Heiko – mein Freund – sofort tätowieren lassen. Sie lachten alle drei. Wieso eine Grenze?, fragte aber Silvia mit glänzenden Augen. Na, die Haut trägt die Welt, sie schützt unsere Innenorgane und reagiert gleichsam auf diese zwei Welten, wie eine Schleuse. Und auf die unsichtbare Welt unserer Psyche. Na ja, sagte Marion, Schülern geht es auch auf den Sack, dass sie andauernd gewarnt werden, vor diesem und jenem. Auf den Nerv, Marion, sagte Silvia. Seien Sie ehrlich, ekeln Sie sich echt nicht vor den Krankheiten und vor einer alten Haut? Jung und frisch ist eine Haut natürlich sehr schön, aber wenn sie altert und Lebensspuren trägt, dann hat sie viel mehr zu erzählen, antwortete Viktor. Das ist Literatur, kicherte Marion. Lieben werden Sie sicherlich keine alte Haut, oder ist Ihre Klara schon fünfzig? Lieben tut man nicht unbedingt das Interessante, man mag eher das Glatte und Frische! Silvia stieß ein gequetschtes Lachen aus: Ach Marion, irgendwann bist du auch fünfzig! Viktor sah auf ihre Hand, eine vierzigjährige Hand mit ringlosen Fingern und kurz geschnittenen, weiß lackierten Nägeln, und er zeigte auf einen kaum sichtbaren braunen Punkt. Schauen Sie, da steigt ein Stern auf, und für mich ist das schön. Das hatte er schon immer einer Frau sagen wollen, die ihre ersten Altersflecke beklagte, und hatte es bis jetzt nicht gewagt.
Er entschied, sich bei einem Handballverein anzumelden, und wurde schon am Mittwochabend darauf zum Training eingeladen. Nach dem Spiel gingen einige noch ein »obligatorisches Bier« trinken, wie Tilo, ein Mitspieler, es nannte. Sie plauderten über kleine Probleme des Vereins und über ihre Frauen, sie scherzten. Viktor langweilte sich und warf sich seinen Hochmut vor. Die Striche, die sich auf seinem Bierdeckel anhäuften (meine Runde!) reichten für seine Integration noch nicht aus.
Ab und zu rief Gerlach an, fragte, wie die Praxis lief, ob er etwas für Viktor tun
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