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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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richtete Viktor seinen Blick auf den schlurfenden Mann, den massiven, leicht gebückten Rücken im tannengrünen Pulli, die graue Cordhose, die auf den Beinen Falten warf, die kräftigen, rudernden Arme. Und verjagte wie stechende Mücken plötzliche Erinnerungen an seinen Großvater, an seine Oma, die er schon als Zwölfjähriger getröstet hatte. Der kommt wieder, Oma, die andere, die merkt schnell, dass sie nichts an ihm hat. Er hatte im Wörterbuch das Wort Dirne nachgeschlagen. Als Gerlach mit den zwei Flaschen wiederkam und sie auf den Marmortisch knallte, spürte Viktor den Drang aufzustehen, etwas zu sagen, was ihn von seinen Gedanken entfernte, schaute verstohlen nach rechts und links, als stünde da ein Souffleur. Es fiel ihm aber nichts ein, außer danke und Prost! Und wie verbringst du jetzt deine freie Zeit? Gehst du spazieren? Ich mache ein bisschen Gartenarbeit, antwortete Gerlach, ich hacke und reche hier und da, ich spiele ab und zu Golf, ich blättere in Fotoalben, ich suche die zehn Fehler im gefälschten Bild, ich hole mir einen runter, denn Frau Gerlach …
    Das Essen ist bald so weit. Frau Gerlach war mit dem japsenden Hund ins Zimmer getreten. Sie goss sich einen Portwein ein und setzte sich neben Viktor, dann wechselte sie den Platz und setzte sich ihm gegenüber. Der Eindruck eines einstudierten Theaterstücks überfiel Viktor.
    Der Hund soll doch draußen bleiben, knurrte Gerlach.
    Er bellt und stört die Nachbarn.
    Frau Gerlach hatte sich gerade die Lippen geschminkt. Der Lippenstift war wohl zu knallig für ihr Alter, dachte Viktor. Er ließ ihre Zähne aber heller aussehen. Auch die Augenbrauen hatte sie nachgezeichnet. Im Bekanntenkreis seiner Eltern und auch bei Patientinnen hatte er oft den Hang älterer Frauen, sich übertrieben zu schminken oder mit dem Dekolleté zu übertreiben mit der spöttischen Strenge eines Teenagers verurteilt. Bei Frau Gerlach berührte ihn der Versuch, gegen die Misere des Alters zu kämpfen. Er erinnerte sich an eine Kommilitonin, die ihre heruntergekommene Studentenwohnung in Frankfurt mit kleinen, wilden Blumensträußen verschönerte. Sie stellte sie in die einzige Vase der vergammelten Küche. Er schaute Frau Gerlach an und fand sie tapfer.
    Unsere Metzgereien werden immer dürftiger, ich habe lange nach Kalbsnieren suchen müssen, sagte sie plötzlich.
    Du hast doch nichts anderes zu tun, grinste Gerlach.
    Seine Frau schüttelte nur den Kopf: Die Leute kaufen nur noch Schweinefleisch, es ist billiger. Haben Sie Probleme mit der Praxisgebühr, lieber Viktor? Mucken Ihre Patienten nicht auf?
    Es folgte ein Gespräch über die wirtschaftliche Lage und die finanziellen Schwierigkeiten der Rentner und der jungen Familien, nichts war neu an den Bemerkungen und an den aus der Tageszeitung gelesenen Nachrichten, die Viktor und Frau Gerlach austauschten. Gerlach gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Viktor suchte verkrampft nach einer geistreichen Anekdote, es fiel ihm aber nichts ein. Es wäre, spürte er, kein Unterschied, ob er erzählte, er habe in der U-Bahn jemanden gesehen, der den Kölner Anzeiger las, oder ob er gestern von einem Exhibitionisten nach dem Weg gefragt worden sei. Alle Geschichten erstarben, bevor man sie in Worte fassen konnte. Der Hund hatte sich neben seinem Stuhl hingelegt und roch. Die Düsterheit der Räume mit den vergilbten Tapeten, den schwachen Lampen, der Rauchnebel von Gerlachs Zigarre schluckten die Züge seiner Gegenüber, außer dem sehr roten sprechenden Mund von Frau Gerlach, dessen Klänge ihm zudem jeglichen Überlebenswillen nahmen. Er war versucht, die Augen zu schließen und sich in diese dämmrige Stimmung driften zu lassen.
    Beim Essen entstand eine peinliche Schweigepause, in der Gerlach die Nierenstücke aus seiner Sauce aussortierte und an den Rand des Tellers relegierte. Dann wurde Viktor gebeten, von seiner Familie in Frankfurt zu erzählen. Sophie studiert in Frankfurt Psychologie, sagte er. Martin hat die Schule mit sechzehn geschmissen, einiges herumprobiert, jetzt macht er, allerdings erst mit achtundzwanzig Jahren, eine Lehre als Automechaniker. Autos waren immer sein Hobby. Das Gesicht Klaras schob sich zwischen ihn und Frau Gerlach, und ihr Mund flüsterte ihm ins Ohr, mein Gott, langweile ich mich! Er war wieder vierzehn, hätte gern gefragt, ob er aufstehen, sich in sein Zimmer zurückziehen dürfe.
    Hat sich Ihre Freundin Klara in diese Familie gut integriert? Aber sicher, erwiderte Viktor,

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