Der Gesang der Haut - Roman
sich die ganze Zeit nicht wohl gefühlt, sich das Rezept des Sauerbratens in allen Einzelheiten anhören müssen und zu viel getrunken, aber sie, Klara, habe tapfer versucht, mit dem schönen Gesang den Abend zu retten, wie dieser alte Bock dauernd mit ihr geflirtet habe, sei echt lachhaft gewesen, da sie so schön gesungen habe, dafür sei er, Viktor, echt dankbar, aber der Alte habe sie mehr oder weniger beschwatzt, ja, gezwungen zu spielen, so wie der auf sie eingeredet habe, Gott sei Dank ist es vorbei, mein Klarachen, ich verspreche dir, dass … Er hielt inne, merkte, dass er zu viel redete, dass er etwas ansprach, das nur ein Scheinproblem war, das machte er immer, wenn ihn eine wachsende Angst befiel. Nein, sagte sie einfach, nein, ich fand den Abend interessant, keine Nullachtfünfzehn-Leute wie unsere üblichen Freunde, Leo, Katja … Und so alt sind sie nicht, ich finde, er sieht noch klasse aus und ich bin froh, dass ich singen durfte.
Sie hatte mit einem Satz alle ihre (guten, treuen, langjährigen) Freunde niedergemacht, wie man bei einem Kartengebäude, die untere Karte zieht und dann das Ganze umstürzt. Er war sauer auf sie. Und was bedeutete dieses »singen durfte«?
Du darfst doch immer siegen, sagte er.
Was?
Singen, ich meinte singen, du kannst doch singen, so oft du willst, oder?
(Moira)
I n diesem Stadium eurer Geschichte versucht Henrietta noch ihre löchrige Welt wie eine Socke auszubessern: Ihre Liebe ist das Ei, das sie in das Loch hält, das eine dramatische Dimension annimmt, aber das fadenscheinige Werk wird jederzeit wieder zerreißen. Mit zusammengepressten Lippen erzählt sie mir von sich, jeden Satz zischt sie heraus, als müssten sich ihre Schmerzen Luft machen. Wenn sie freiwillig spricht, dann nur, damit ihr Mann mich nicht so schnell entführt. Doch bald nimmt er mich mit in sein Arbeitszimmer, wir wissen, sie horcht an der Tür, und wenn er so viel erzählt, dann auch für sie.
Und Klara? Sie strebt danach, einen Spalt zu vergrößern, sie zieht Schnüre ab, löst sich vom Nestgeflecht, will aus dem Freiheitsloch den Kopf herausstrecken und späht nach einer Richtung, die die ihre wäre. Gerlach hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. Das wird Konsequenzen haben.
Und Gert Gerlach? Auf dem Green drehen seine Gedanken und seine Schritte ihre Kreise. Langsam und sicher schwenkt er seinen Schläger nach hinten, dann eine Spur entschiedener nach vorn, und der Ball wird mit einem trockenen Geräusch angestoßen, einem Miniknall, den er liebt, er lässt den Golfschläger einen halben Kreis beschreiben, immer wieder die gleiche Spur in der Luft, vom ersten Loch zum letzten werden lauter unsichtbare Halbkreise in die Luft gezeichnet, die luftige Sprache des Golfs. Gert Gerlach spielt, und bis zum Ende der Partie basteln ihm die Halbkreise des Schlägers seine Wiegen. (Erinnerst du dich an die Katzenwiegen, die du für Martin und Sophie mit Fäden zwischen den Fingern gebildet hast?) Gönnen wir ihm zurzeit noch das Ruhen, den geometrischen Frieden des Greens, die poetische Balance der schön ausgeführten Gesten. Mehr will er nicht, oder? Ich fürchte, doch.
Und du? Du lebst an diesem Frühlingsanfang noch in deiner Traumblase, pflegst krampfhaft deine Illusionen wie ein Inuk seine Schlittenhunde. Du spürst aber noch Gerlachs Umarmung und entsinnst dich eines Satzes deines Großvaters: Ihr Rotznasen glaubt immer, das Junge töte das Alte und löse es ab. Irrtum: Das Alte hat immer das letzte Wort.
Die Arbeit hilft dir. Du bist der Patient deiner Kranken, die sich mit ihren Furunkeln und Geschwüren um dich drängen und dich von der Außenwelt abschirmen.
Und ich? Gerlachs haben mich neugierig auf dich gemacht. Er nennt dich: der junge Arzt. Ich spüre ein Fünkchen Heiterkeit und einen nostalgischen Neid in seiner Stimme. Wenn sie dich erwähnt, ändert sich die Farbe ihrer Augen, sie vergisst dann, ihre Sätze zu Ende zu sprechen, auch wenn sie ganz platt von »einem netten jungen Mann« berichtet.
Lauf, mein Viktor, lauf hinter den Trägern her, das Steigen zum Kilimandscharo wird dir den Druck der Erinnerung mindern. Ich folge später – vielleicht.
10
M arion Haas wollte wissen, ob sie übernommen werde, Viktor antwortete verlegen, er wünsche es sich, könne allerdings nichts versprechen, sie solle sich ruhig woanders umschauen, bis zum Sommer könne sie auf jeden Fall bleiben, vielleicht laufe die Praxis doch so gut, dass er sie übernehmen könne, sollte sie aber bis
Weitere Kostenlose Bücher