Der Gesang der Haut - Roman
verbannte Viktor bald seinen Groll, schalt sich für seine Strenge zwei Menschen gegenüber, die in einem unabwendbaren Drama steckten, sich vielleicht einer tückischen, unheilbaren Krankheit, einer düsteren Zukunft stellen mussten und denen wenigstens Klara eine Freude gemacht hatte, Klara, die sicher großzügiger war als er. Dass Gerlachs so viel Interesse an seiner Freundin zeigten, sollte er gutheißen, ja, er sollte dankbar sein, er, der so viel Glück im Leben hatte, Jugend, Gesundheit, Liebe, einen wunderbaren Beruf und eine Praxis, die er den Gerlachs verdankte.
Abends ging er in den Wald, joggte anfangs, um aber bald seine Schritte zu bremsen: Der Frühling kam, von Tag zu Tag sah man, wie sich Knospen öffneten, wie das Scharbockskraut mitten in neugeborenen Brennnesseln seine gelben Sternchen anbot, einmal folgte Viktor mit den Augen einer Formation wilder Gänse, die nach Norden zog, und oft vergaß er ganz zu gehen, so wie er oft das Überflüssige vergaß. Er schaute, lief langsam und atmete neue Gerüche ein.
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D er blasse Mann, der das Zimmer betrat, hieß Ludo Fischer und räusperte sich, bevor er umständlich erklärte, ihm fehle nichts, er komme nicht als Patient, sondern in einer besonderen, etwas heiklen Angelegenheit. Die moderate Körpergröße und die Schlankheit des Mannes ließen ihn etwas jugendlich erscheinen, ohne der Person viel Charme zu verleihen. Er war in den Fünfzigern und gehörte wahrscheinlich zu denen, die schöne Kinder gewesen und dann zu mittelmäßigen Erwachsenen mutiert sind. Ja, sagte Fischer, und seine großen, tief liegenden Augen strahlten List aus, sein Mund deutete ein Lächeln an, eine abwartende Haltung, als würde er gleich Quizfragen stellen, die Viktor zwangsläufig zum Scheitern bringen würden, ja, also, die Sache ist so. Viktor hatte ein sehr gutes optisches Gedächtnis und war sich sicher, diesen Mann nie zuvor gesehen zu haben. Wenn ich mich vorstellen darf, sagte Herr Fischer: Er nahm seine Karte aus der Jackentasche und schob sie bedächtig zu Viktor, einen Finger darauf haltend, bis Viktor aufhörte, ihn zu mustern, und die Karte las. Ja, vielleicht haben Sie bereits von mir gehört, sagte Fischer. Nicht, dass ich wüsste, Herr Fischer, Sie sind also Detektiv, antwortete Viktor und die graue Mappe, immer noch im Schrank, flatterte in seinem Gedächtnis. Fischers Aussehen passte zu seinem Beruf: Unauffällig, banal, ein Weder-noch-Typ. Und was wünschen Sie von mir? Sie sind der Nachfolger von Herrn Doktor Gerlach. Ja, und? Ich hatte mit der Familie Gerlach beruflich zu tun und brauche jetzt ihre Adresse und Telefonnummer. Gerlachs sind nicht im Telefonbuch zu finden. Er selbst habe Frau Gerlach früher immer in der Praxis besucht. Darf ich fragen, worum es geht?, fragte Viktor kühl. Es sind noch Patienten im Wartezimmer, die ich nicht gern warten lasse. Es geht um eine Rechnung, erwiderte der Mann, eine Rechnung, die Frau Gerlach zu begleichen hat. Und Viktor: Was habe ich damit zu tun?
Ich habe für Frau Gerlach gearbeitet. Ich will bezahlt werden.
Sie haben für Frau Gerlach recherchiert, sagte Viktor, das geht mich wirklich nichts an. Der Mann nickte schräg mit dem Kopf und schnitt dabei eine Grimasse. Ich wollte mich nur mit Gerlachs unterhalten, sie haben sicher keine Zeit, bei einem Prozess zu verlieren. Ich wundere mich, sagte Viktor, dass Sie damit zu mir kommen, wenn Frau Gerlach noch eine Rechnung mit Ihnen offen hat, wird es wohl einen Grund geben, der mich ebenfalls nicht betrifft, also wenn Sie erlauben … Er stand auf.
Die graue Mappe im Schrank enthielt einen Auftrag, der mindestens zehn Jahre alt war. Also hatte Frau Gerlach ihren Mann wieder beobachten lassen, möglicherweise vom selben Detektiv. Auch Herr Fischer stand auf. Ich will Sie nicht länger aufhalten, Herr Doktor Weber, Gerlachs haben, soviel ich weiß, eine Tochter, vielleicht kann sie mir helfen, oder ein ehemaliger Kollege lässt sich bestimmt finden. Herr Fischer, sagte Viktor und schritt zur Tür, die er breit öffnete, ich muss mich sehr wundern, dass Sie als Detektiv Gerlachs Adresse nicht längst herausgefunden haben. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, werden Sie in Ihrem Beruf wenig erfolgreich sein. Es könnte der Grund sein, weswegen Frau Gerlach Ihre Rechnung nicht begleichen wollte.
Aber Herr Doktor Weber, Sie sind doch die erste Etappe meiner Recherchen, glauben Sie mir, ich werde Erfolg haben! Der Detektiv lachte, wenn auch ein bisschen
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