Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
Vom Netzwerk:
auffälligen Faden und mit der Hand gesäumt worden war. Danke, sagte Moira, ich weiß übrigens, was positiv in dem Zusammenhang heißt. In einem anderen Leben war ich sogar Krankenschwester. Ach, errötete Viktor, und Sie wohnen jetzt bei einer Frau Hirsch, dieser älteren Dame, die ebenfalls alles juckt. Ja, sagte Moira und fing an zu erzählen, ohne dass er daran dachte, sie zu unterbrechen: Sie habe ihren Mann in Köln bei einer Filmvorstellung kennengelernt und nach einem halben Jahr geheiratet. Sie lebe seit ihrer Scheidung bei ihrer ehemaligen Schwiegermutter. Sie sei noch nicht mit dem Studium fertig gewesen, ihr Exmann auch nicht, der jetzt bei seiner neuen Freundin wohne. Ob die verwitwete Schwiegermutter sich ihrer oder sie sich der doch sehr einsamen Dame angenommen habe, sei unklar. Allerdings schien jetzt Gisela, so der Vorname der Exschwiegermutti, ihre Entscheidung zu bereuen. Sehen Sie, Herr Doktor Weber, sie will es sich nicht eingestehen, aber sie vermisst ihren Sohn, der sich jetzt nicht mehr in die Wohnung traut. Ein abtrünniger Sohn bleibt ein Sohn. Eine Exschwiegertochter höchstens eine gute Freundin. Sie hat ihn spät bekommen, mit vierzig, glaube ich, er war ihr Ein und Alles. Viktor wollte jetzt nicht den Psychiater spielen, ihn packte aber die Neugier, und Moira Sanderia schien diese Neugier sehr zu genießen, so wie sie ihn anschaute und ihre Sätze nicht immer zu Ende sprach, als wollte sie seine Fantasie anregen. Er fragte unverhohlen, warum sie bei ihrer Schwiegermutter bleiben wolle, sie antwortete, keine Ahnung, Lethargie, Bequemlichkeit, sie warte ab, wolle wenigstens ihre Diplomarbeit fertigstellen, bevor sie ausziehe, ein Umzug würde sie aufhalten, der Professor dulde bestimmt keinen Aufschub, sie wisse außerdem nicht, ob sie ausziehen wolle, ihre eigenen Eltern könnten ihr finanziell helfen, eigentlich sei der Einzug bei Frau Hirsch eher die Idee der Schwiegermutter gewesen, eine zweischneidige Idee, es sei dahingestellt, ob Selbstsucht oder Großzügigkeit, Sentimentalität oder echte Zuneigung, womöglich Angst vor der Einsamkeit sie dazu brachten, vielleicht auch die Lust, dem eigenen Sohn eins auszuwischen. Dem nahm sie die Trennung übel, wie zuvor die Hochzeit. Philip habe seine Ehe mit ihr gegen die Mutter durchgeboxt, es habe viel Streit gegeben damals, Gisela sei von dem Sohn als Rassistin beschimpft worden, was sie sicherlich nicht sei, sie habe nur gegen die frühe Hochzeit etwas einzuwenden gehabt, sie seien beide knapp über zwanzig und mittellos gewesen, außerdem habe die Gisela wohl gespürt, dass sie nicht zueinander passten, dass sie einer falschen Romeo-und-Julia-Romantik erlegen waren, diese Hochzeit war eine Flucht nach vorn, ein Unsinn, ich sage es Ihnen, Herr Doktor Weber, mein Ehemann hat gesponnen, die Schwiegermutter war nicht oder nur durchschnittlich rassistisch, wie du und ich, wer kann ehrlich leugnen, dass er einem Araber nicht leichter misstraue als einem christlichen Bleichgesicht. Wirklich, ist es so, ja?, fragte Viktor rhetorisch, der nur wollte, dass sie weitererzählte, ihre vitale Art tat ihm gut, ihre Geschichte war amüsant, es wartete niemand mehr im Wartezimmer, ja klar, sagte sie weiter, auch sie, Moira, sei manchmal arg rassistisch, sie werfe gern alle in einen Topf, Arschlöcher, Herr Doktor Weber, sind auf dieser Welt dick gesät, und wenn ich einmal eine gemeine Bemerkung einstecken muss, beschimpfe ich sogar die politisch korrekten Deutschen als falsche Fünfziger. Überhaupt sei echte Währung immer seltener, sage ihre Schwiegermutter. Ach so, nickte Viktor amüsiert, und was meint sie damit? Sie meint, dass eine Gesellschaft nur bestehen kann, wenn die Menschen lavieren, sich durchschlängeln, mogeln und die Wahrheit verdrängen. Die Unaufrichtigkeit ist die Säule des Überlebens, ich erkläre es Ihnen ein anderes Mal, ich will Ihnen die Zeit nicht rauben, antwortete die junge Frau und lachte, das weiße Lachen eines Raubtiers, dachte Viktor – wie kitschig, wie klischeehaft, flüsterte Klara –, falls Tiere lachen können. Um auf die Gefühle von Gisela zurückzukommen, diese Schwiegermutter habe sich ehrlich Mühe gegeben, ihr Misstrauen, ihre Ängste hinunterzuschlucken: Verdauen, die Spülung betätigen und lächelnd aus dem schwarzen Kabinett kommen, das schaffe sie locker, diese alte Frau, gar nicht so alt, siebzig höchstens, sie gehöre eigentlich zu denen, die keine Hässlichkeiten in ihrem Leben zulassen, ja, sie

Weitere Kostenlose Bücher