Der Gesang der Haut - Roman
neunzehn betrat sie ihre unsterbliche Liebe zu Gert Gerlach gleich einer Kommunikantin den Kölner Dom, und ihren Glauben daran hielt sie mit beiden Händen fest, wie die schwere Vase, die sie bei ihren zukünftigen Schwiegereltern mit Wasser gefüllt hatte. Mit dem teuren Gefäß und den von Gert mitgebrachten Gladiolen kam sie aus der Küche zurück und hörte an der angelehnten Wohnzimmertür Gerts Dialog mit seiner Mutter. Diese hatte das Verschwinden der Schwiegertochter in spe genutzt, um ihren Sohn mit spitzen Lippen zu fragen: Was findest du an diesem Mädchen, Gert? Und die junge Henrietta, die nie wirklich jung aussah, blieb mit der Vase in ihren verkrampften Händen hinter der Tür stehen und hörte mit klopfendem Herzen Gerts Antwort: Etwas, was du nicht sehen kannst, Mutter, weil du es nicht besitzt, und die Frauen, die dir gefallen, auch nicht. Dieses Etwas blieb ungenannt und band Henrietta fürs Leben an Gert.
So sehe ich sie als junges Mädchen: Sie lästerte nicht, schmeichelte niemandem, lachte selten mit, manche hielten sie für verklemmt oder für dumm, einige für arrogant, unflexibel. Henrietta folgte ihrem bescheidenen Weg. Von anderen Jugendlichen unbeeinflusst, einsam, unfähig, sich zu verstellen. Sie trug keine Brille, aber Leute, die versuchten, sich an sie zu erinnern, beschrieben sie als Brillenträgerin, andere sagten, sie hätte eine leicht behaarte Oberlippe, was nicht stimmte. Man beschrieb ihr Haar als dunkelblond und fad, sie war eher brünett. Henrietta erwartete nichts anderes vom Leben als ein Wunder, eine plötzliche Lichtquelle in der dunklen Welt ihrer Kindheit.
Was sie an diesem Nachmittag vor der Wohnzimmertür von Gerts Eltern empfand, war mehr als Dankbarkeit und Glück, der Satz war schön wie ein Verlobungsring, das »Etwas, was du nicht sehen kannst, Mutter« machte aus Gert einen Entdecker, einen Christoph Columbus der Liebe. Und sie selbst schmiedete aus ihren Gefühlen ein goldenes Ei und erfand selbst die wahre Definition der Liebe: Liebe ist ein großes Ja, ja zu dir, ja zu deinem ganzen Wesen, ja zu deiner Vergangenheit, deiner Zukunft, deiner Schwäche, ja zu deiner sichtbaren und deiner unsichtbaren Welt. Und dieses Ja erhebt einen über das gemeine Volk, dieses Ja macht dich schlank und rank wie diese zwei Buchstaben, dein Wesen sanft und wohlklingend, dein Leben schlicht und reich, und alles, alles wird gut und immer wieder gut.
Aber was war, was ist überhaupt Liebe? Eine Fundgrube, eine Fallgrube? Viktor, das Steigen auf einen Gipfel eignet sich prima dazu, solche Fragen zu erörtern, es sei denn, du kämpfst jetzt zu sehr gegen die Erschöpfung, die Luft wird dünn, der Weg zu steil, ob Liebe ein Gefühl ist, das sich auch von Stunde zu Stunde verdünnt, in die Landschaft schlüpft und verschwindet wie dieses Reptil, das eure Schritte im Bergregenwald verscheucht haben? Wie ein Lachgas, das dich mit weinenden Augen und einem zwischen tiefen Falten eingeklammerten Mund zurücklässt? Ein Ablenkungsmanöver der Biologie, um die kalten Zwecke des Ehe-Familien-Gesellschaftslebens zu tarnen, nach Art eines Diktators, der dem Volk prächtiges Feuerwerk schenkt, damit es von seinem Elend nichts merkt? Ein Querverweis auf eine göttliche Präsenz im Universum, oder ein Gottesersatz oder gar Gott selbst? Ich neige als Heidin zu dieser Frömmigkeit. Henrietta Gerlach spürte auf jeden Fall, was Liebe war, wenn sie einem geraubt wurde: ein Motiv zum Mord, ein Grund zum Selbstmord.
12
V iktor erzählte Klara am Telefon vom Verhalten seiner Gastgeber, vom theatralischen Wortgefecht der beiden. Ihr Lachen perlte frisch in seinem Ohr. Sie fand den Gerlach »goldig«: Ich mag den Typ echt. Weißt du, dass er mich angerufen hat? Er wollte sich noch für das Singen bedanken. Was für ein komischer Vogel! Ja, was für ein komischer Vogel, wiederholte Viktor und sah einen fetten, krächzenden Raben vor sich, und der Rabe mauserte sich zum Großvater mit derben, vernichtenden Sprüchen. Gerlachs waren enttäuscht, dass du am Samstag nicht kommen konntest, sagte er. Ich fürchte, wir sind nicht aus dem Schneider, das riecht nach Serieneinladungen, ich hätte schon beim ersten Mal ablehnen müssen. Jetzt wird’s immer schwieriger.
Ach, flötete Klara, die beiden sind doch in Ordnung.
In Ordnung? Viktor staunte.
Er hat übrigens versucht, mich zu überzeugen, mein Musikstudium wieder aufzunehmen. Das ist doch rührend, oder? Er meinte, Musik an Schulen zu unterrichten
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