Der Gesang der Haut - Roman
säuerlich. Anstatt zur Tür zu folgen, faltete er die Hände vor dem Mund, bevor er wieder zu sprechen begann. Viktors geschultem Blick fielen die zwei Eheringe auf, die er an der rechten Hand trug, und dass die Nägel des Mannes mit weißen Punkten übersät waren. Als er klein war, hatte seine Großmutter ihm erzählt, dass jede Lüge einen weißen Punkt auf einem Nagel hinterließe. Unsinn, wusste Viktor schon damals, der trotzdem manchmal seine weißen Punkte zählte und versuchte, sie seinen kleinen Schülerlügen und Mogeleien zuzuordnen. Jetzt betrachtete er ungeduldig das rätselhafte Lächeln des Detektivs und war augenblicklich überzeugt, dass der Ausdruck gewollt war, um sein Gegenüber neugierig zu machen. Berichten Sie demnächst Frau Gerlach von meinem Besuch, sagte Fischer. Es wird sie sicherlich interessieren und ermutigen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Er stand auf und streckte Viktor seine Hand hin. Auf Wiedersehen, Herr Doktor Weber. Sie sollten Kalziumtabletten nehmen, sagte Viktor, Ihre Fingernägel. Auch er lächelte so zweideutig, wie er nur konnte.
Sollte er Frau Gerlach vom Besuch des Detektivs berichten? Das wäre doch für sie nur peinlich. Nein, er würde es nicht tun, um nicht noch tiefer in dem Morast dieser problematischen Familie zu versinken. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, flüsterte seine Großmutter, aber dir Viktor, kann ich es sagen: Lieber leiden als dumm sterben. Versuchst du herauszufinden, wo er sich mittwochs herumtreibt, machst du es für mich?
Er entschied sich für eine Flasche Calvados für das Geburtstagskind und kaufte einen Strauß Blumen für dessen Frau. Tilo Jansen trug eine breitrandige Brille, ein seidenes Hemd, sein Haar glänzte vom Gel und Viktor erkannte ihn kaum. Der Optiker schien sehr stolz auf seine Frau zu sein und stellte sie Viktor vor, während er sie fest um ihre nackte Schulter hielt. Ach, sagte Irene, Sie sind also der Arzt. Tilo unterhielt sich mit weiteren Gästen, warf aber immer wieder schiefe Blicke auf Viktor und auf seine Frau. Viktor wechselte den Raum und setzte sich im Wohnzimmer auf ein Sofa, wo gerade ein Platz frei geworden war, und trank sein Kölsch. Er langweilte sich schon. Als er wie ein erotisches Streicheln sein Handy an seiner Leiste vibrieren spürte, hörte er eine Viertel Sekunde auf zu atmen, aber es war nur seine Schwester, die ihm per SMS ein gutes Wochenende wünschte und ein Foto von sich und Klara schickte. Alles Liebe. Er schoss mit dem Handy ein Bild von der angebissenen Hähnchenkeule als Vordergrund der gackernden Gäste und schickte es seiner Schwester: Rupfe gerade ein Partyhähnchen. Liebe Grüße an euch beide. Verbrachten sie den Abend gemeinsam? Klara hatte sich in den beiden letzten Tagen nicht mehr gemeldet, und wenn er angerufen hatte, war nur der Anrufbeantworter zu hören gewesen. Das Warten auf Nachrichten warf ihn in die Pubertät zurück, in die Zeit der ersten Verliebtheit, als er sein Leben am Telefon ein- und ausatmete.
Aus dem Wohnzimmer war laute Tangomusik zu hören. Er sah, wie Tilos Frau ihre Schritte vorführte. Alles drehte sich im Raum, lachte schrill oder dunkel. Er schloss einen Augenblick die Augen und hörte ein angsterregendes Zoogetöse, es kläffte, fiepte, röhrte, schmetterte, krähte, er hatte hier nichts zu suchen, zu früh, dachte er, bin fehl am Platz, zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Freundschaften schließen kann ich später, vielleicht. Er wollte sich höflich von seinem Gastgeber verabschieden, aber dieser folgte so gebannt dem Tanz seiner Frau, dass er ihn nicht stören wollte.
(Moira)
D as Explodieren des Frühlings führt einem die Geschwindigkeit der Zeit vor. Es gibt hier kein Entrinnen vor dem Tempo der Jahreszeiten, auch wenn die Nächte in den schattigen Ecken der Gärten noch weiße Spuren hinterlassen, die beim ersten Sonnenschein zu glänzendem Tau werden. In Afrika kann man sich ein anderes Zeitbewusstsein leisten, hier aber zeigt uns Mutter Natur, wie die Jugend vorbeibraust. Vroum! Im Nu hast du in deinen schwarzen Locken zwei neue weiße Haare, mein Viktor. Am Fuß der glatten grauen Stämme der Erlen ufern pfefferminzgrüne Büsche aus. Der noch vor zwei Tagen nackte Wald reckt sich unter frischem Tüll, Narzissen füllen sich mit Sonne, Tulpen enthüllen schon ihre Narbe. Überschwänglich, diese Jahreszeit, saftig grün und grenzenlos sinnlich. Sonntags grillen türkische Familien am Fuß des Hochhauses und der Duft von verbranntem
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