Der Gesang der Haut - Roman
unglücklich und im Wissen, dass dieser Satz ihm durchaus Minuspunkte bescheren würde. Mir ist dein Glück absolut wichtig, ob du aber als Lehrerin oder als Musikerin … aber sie fiel ihm wieder ins Wort: Jeder ist sich selbst der Nächste. Hör auf, wir sprechen aneinander vorbei, es hat jetzt keinen Sinn. Wir telefonieren morgen wieder.
Warte doch, sagte Viktor schnell, leg bitte nicht wieder auf. Ich verstehe nicht ganz, wieso du erst jetzt alles in Frage stellst, wieso Gerlachs Komplimente dich jetzt in diese Entscheidungskrise bringen. Bis jetzt hast du doch sehr zufrieden gewirkt!
Ich merke doch, dass du nichts kapierst, konterte Klara, schade, dass ich es dir erklären muss: Bei Gerlachs habe ich wieder gespürt, wie es ist, vor einem Publikum zu singen und wie viel Freude es macht und dass ich das alles brauche. Ist das so schwer zu verstehen?
Das alles, echote Viktor, du meinst damit das Singen, den Applaus, die Bewunderung eines Publikums.
Du versuchst, meine Gefühle lächerlich zu machen, sagte sie. Ich meine auch die Rührung, die man in einem Zuhörer hervorrufen kann, die Gefühle, die man mit dem Publikum teilt, ach, wie soll ich dir das erklären.
Ich verstehe dich doch.
Ja? Dann verstehst du auch, dass ich dieses bestimmt nicht bei meinen Schülern erreichen kann, es geht nicht so sehr um Bewunderung, die Tatsache allein, dass jemand zuhört, ja, das ist es, einer Sängerin wird zugehört, richtig zugehört, sie hängen an meinen Lippen, zugegeben, ich genieße es. Die Schüler halten sich lieber beide Ohren zu, sie spielen die Affen, lieber sterben als eine Rührung zeigen, viele Männer sind in dieser Hinsicht pubertär geblieben.
Wenn du mich meinst, dann …
Ich gebe es zu, unterbrach Klara, nichts ist schöner, als in die Augen eines Zuhörers zu sehen, man hat ein Gefühl der Macht, keine böse Macht, eine kleine Macht, eine winzige, süße Macht, verstehst du? Oder viel mehr, man erlebt …
Eine Art Kommunion?
Das klingt wieder ironisch! Aber ja, Viktor, man wird geliebt, für einen Abend nur, und das reicht. Es ist so intensiv! Aber drei Minuten, eine Stunde lang, ist dieses Gefühl da.
Ich liebe dich für immer.
Mein Gott, Viktor, ich meine nicht dich! Diese Momente des Glücks hatte ich in den letzten Jahren vergessen oder verdrängt. Vielleicht bin ich doch sehr narzisstisch …
Das habe ich nicht gesagt.
Wie eben Künstler sind, eine echte Lehrerin sollte nicht so sehr an sich denken, sie soll ihr Wissen weitergeben, immerzu weitergeben, weitergeben, ihre eigene Entfaltung spielt dabei keine Rolle. Sorry, Viktor, ich denke an meine.
Na ja, sagte Viktor, sicher, du hast recht.
Was heißt schon, du hast recht? Ich will nicht recht haben, ach, Scheiße, ich quatsche zu viel und du sagst so wenig, du, sag doch mal was …
Egal, was ich zurzeit sage, wirst du denken, dass … Ach …Was soll’s …
Mein Gott, Viktor, in solchen Augenblicken, wenn du schweigst und schweigst, fühle ich mich hohl wie eine Glocke mit einer großen Zunge.
Sie lachte ein kleines, verstimmtes Lachen.
Mir scheint, sagte Viktor etwas trocken, dass du deine Entscheidung sowieso getroffen hast.
An diesem Abend ging er wieder zum Handballverein. Er musste eine Zeit lang auf der Bank abwarten, bis er eingewechselt wurde. Er richtete seine Augen auf das Spiel, war aber noch sehr aufgewühlt und abgelenkt, guckte nur auf die Füße und Waden der Mannschaft, ein komisches Ballett von behaarten Beinen, die aneckten, sich entfernten, streckten, rieben, stießen, sich wieder entfernten, erblickte die schwitzenden Nacken, die Gesichter mit den triefenden Stirnen, die roten Backen, alle zeigten denselben gespannten Ausdruck, alle Münder ein O der Enttäuschung, wenn ein Ball danebenging. Er gähnte, widerstand der Versuchung, nach Hause zu gehen. Als er endlich selbst spielen durfte, kam er sich wie jemand vor, der Kindern eine Freude machen will. Zum obligatorischen Bier ging er nicht mit, aber der Optiker Tilo Jansen lud ihn zu einer Geburtstagsfete am nächsten Samstag ein. Ich weiß nicht, ob ich kann, sagte er, ich rufe dich an.
Die Gerlachs hielten sich bedeckt. Vielleicht schämten sie sich des unwürdigen Spektakels, das sie ihm geliefert hatten. Womöglich hatte Gert Gerlach die Szene schon vergessen, seine Frau sicher nicht, die jetzt einsam in dieser grauen Villa am Fenster hockte und sich fragte, mit welchem Gericht sie ihn wieder verführen könnte. Und da sie sich nicht mehr meldeten,
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