Der Gesang der Haut - Roman
Schaschlik steigt in die Nase der Spießbürger. Du arbeitest viel und immer länger, auch wenn Silvia und Marion längst zu Hause sind. Du verdrängst böse Vorahnungen und schwarze Gedanken. Du rettest deine Haut mit der deiner Patienten. Bevor du dich zum muffigen Einsiedler änderst, dir jede Fete vermiest als flehender Liebhaber, der Klara auf die Nerven geht mit seinem Ich-verstehe-dich-doch-mein-Schatz-aber-wann-sehen-wir-uns, ist es Zeit, mein lieber Viktor, dass ich dir mein juckendes Händchen reiche. Ich komme.
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D as Wartezimmer füllte sich. Bei jeder neuen Anmeldung triumphierten Silvia und Marion. An einem Mittwochmorgen wurde Viktor eine Frau Hirsch angekündigt, die ohne Termin erschienen sei. Viktor erinnerte sich noch sehr gut an die ältere Dame, mit der er über die Krätze und die Pest gescherzt hatte, und staunte nicht wenig, als eine junge Schwarze eintrat. Sie hatte ihr Haar entkraust und einige Strähnen blond gefärbt. Das haarige Massaker nahm ihren Zügen nichts an Schönheit. Sie erzählte Viktor, dass sie Arme und Beine, Po und Ohren fürchterlich juckten. Sie lebe mit einer alten Dame zusammen, die sich selbst dauernd kratze. Die alte Dame stelle die Heizung auf volle Pulle bis in den Mai hinein. Sie bewege sich selten an der frischen Luft, trinke kein Wasser, verbringe ihre Tage mit dem Stricken von Schals, die sie an Bekannte und Bekannte von Bekannten verschenke. Gebe es nicht auch Allergien gegen Wolle oder synthetische Textilien? Ihre Anschuldigungen hätten sie, Moira Sanderia-Hirsch, doch unsicher gemacht, jetzt jucke es sie auch überall, vor allem die Hand (sie lachte), und sie wolle doch sichergehen, dass sie der alten Dame keine ansteckende Hautkrankheit beschert habe. Viktor biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu prusten. Er stellte sich das »Nervenbündel« vor, die ihre Nadeln im Schoß ruhen ließ, um sich die Arme blutig zu kratzen, die beobachtende junge Frau im Hintergrund. Er untersuchte zuerst die Stellen in der Kniekehle und in der Armbeuge, hielt Hautabstriche unter das Mikroskop. Alles normal, sagte er. Kann doch nicht sein, klagte sie, auch der Rücken juckt, eigentlich alles. Im Handumdrehen zog sie ihr T-Shirt aus, öffnete ihren BH , ließ den Rock herabrutschen und legte sich unaufgefordert bäuchlings auf die Liege. Er betrachtete den einwandfreien Rücken, den festen Po im Tangaslip, ließ seine Hände routinemäßig die Haut streichen, eine glatte, warme, leicht schwitzende Haut. Als er auf der blinden Suche nach Unebenheiten in der Nierengegend tastete, ließ er einen Augenblick zu lange die flachen Handballen auf der Haut, ließ keine Luft zwischen ihre Haut und seine Handflächen eindringen und spürte, dass aus der Sympathie, die er für die junge Frau und deren Haut empfand, eine Lust hervorkam, die er, der tugendhafte Arzt, noch niemals bei Patientinnen empfunden hatte. Er schluckte: Nichts, sagte er, ich sehe nichts, Sie können sich anziehen, und drehte sich schnell weg, ging zu seinem Schreibtisch, wo er am Computer das erstbeste Programm öffnete. Wir machen aber einen Allergietest. Als sie angezogen vor ihm stand, meinte er, einen Anflug von Ironie in ihren Zügen zu erahnen, war sich aber dessen nicht sicher. Er schickte sie zu Silvia, die den Test machen sollte, und wusch sich die Hände. Er ging zum Fenster, schaute die prallen Sprossen eines Ahorns an und versuchte, den Rücken der Patientin und seine Reaktion wegzudenken, rief schnell den nächsten Patienten auf und ließ, obwohl das Wartezimmer jetzt leer war, Moira Sanderia-Hirsch noch eine Zeit lang warten.
Auch der Allergietest ergab keine positiven Ergebnisse. Keine positiven Ergebnisse?, wiederholte sie, als verstünde sie nicht, dass »nicht positiv« eine positive Diagnose ist. Er erklärte konfus, dass das Wort positiv hier negativ zu verstehen sei, schüttelte den Kopf und fing von vorn an: Die Suche nach der Krankheit sei negativ gelaufen, sollte das Ergebnis einer Untersuchung auf eine Krankheit hinweisen, dann sei das Resultat der Suche positiv, die Krankheit sei dann erwiesen, aber Sie, Frau Sanderia-Hirsch – lassen Sie den Hirsch weg, lächelte Moira –, Sie also haben eine gesunde Haut und sind weder auf Pollen noch auf bestimmte Lebensmittel allergisch. Das hatte ich mir gedacht, sagte Moira, alles im Kopf, alles Einbildung, ich wollte nur sichergehen. Sie kreuzte die Beine übereinander. Ihr hochgeschobener Rock zeigte am Saum eine Stelle, die mit einem
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