Der Gesang der Haut - Roman
aufgenommen. Da sie schon sechs Semester hinter sich habe, könne sie in den auslaufenden Diplomstudiengang eingeordnet werden und sich später auf den Schwerpunkt Musiktheater legen.
Hast du das deinen Eltern schon erzählt?, fragte Viktor.
Die Antwort kam laut und wie aus der Pistole: Ihre Eltern gehe das schon gar nichts an. Es sei ihr Leben und ihr Entschluss. Klara kauerte jetzt mit trotziger Mine auf dem Bett: Nie hätten ihre Eltern wirklich an ihre Karriere als Sängerin geglaubt, sie hätten sich als die einzigen Musiker der Familie aufgespielt, und er, Viktor habe sich nicht die Bohne dafür interessiert, was sie sich damals ganz tief im Inneren gewünscht hätte. Sie klopfte sich fast boshaft auf die Brust, als sie »ganz tief im Inneren« sagte. Als sie das Studium aufgegeben habe, um diese verdammte Schullaufbahn einzuschlagen, sei sie von ihren Eltern und von ihm beeinflusst worden, sie sei verliebt gewesen und nicht bei Sinnen. In Viktor hinterließ die Vergangenheitsform »gewesen« ein lang nachhallendes Echo, das ihn daran hinderte, die Fortsetzung des anschwellenden Monologs ganz mitzukriegen: Singen sei ihre Berufung, für sie das einzig Wünschenswerte in ihrem Leben, sie habe sich selbst aus lauter Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühl verleugnet, und er, Viktor, ihr Freund, habe das nicht einmal verstanden. Aber, fing Viktor an und kam nicht weiter: Liebe man denn jemanden, den man so lenken will, ja sogar ablenken will?, hakte Klara nach. Er habe sich auf seine eigene Karriere, seine Wunschvorstellungen, sein eigenes Leben fixiert. Sie wisse ja, dass er sich so wünsche, dass sie zu ihm ziehe, und irgendwann würde sie das auch tun, aber zuerst müsse sie ihr Gesangsstudium zu Ende bringen. Er guckte ihr nicht in die Augen: Aber, sagte er, hast du dich schon angemeldet? Wir haben Ende April, ist es nicht schon zu spät? Du brauchst nicht zu hoffen, antwortete Klara, und die Ironie ihres Tons traf ihn bitter, ich habe mich angemeldet. Ich muss noch pro forma eine Prüfung im Juni machen.
Es wird mindestens drei Jahre dauern, bis du mit dem Studium fertig bist. Werden wir die ganze Zeit eine Wochenend-Ehe verbringen?
Oder gar keine, sagte Klara und betonte jede Silbe.
Er tauchte die Hände in ein T-Shirt, das auf dem Bett lag, achtlos hingeworfen, ein seidiges Top mit schmalen Trägern, er wickelte seinen Finger hinein und fixierte die blaue Grundfarbe des Stoffes. Er versuchte, das Motiv, das auf der Vorderseite des Shirts aufgedruckt war, zu erkennen – Wolken, Meeresschaum? Klara stand vor ihm: Sag doch mal was! Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich verstehe das nicht, murmelte er, ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich habe damals die Entscheidung nicht an deiner Stelle getroffen, schließlich warst du auch kein Kind. Hast du wohl, sagte Klara und mühte sich sichtbar, ihre Aggressivität zu mildern, mir selbst war nicht mehr klar, was ich wollte, du hast es mehr oder weniger ausgenutzt, vielleicht nicht bewusst, aber trotzdem. Du stellst mich als Egoisten und eigennützig dar, erwiderte Viktor traurig, und ich finde nicht, dass ich das verdient habe. Ach, hob Klara die Stimme, du bist ja auch der gute Viktor, der erfolgreiche Sohn der Familie. Frag dich ein einziges Mal (wie absurd sie »ein einziges Mal« betonte …), warum dein Bruder so abweisend ist und warum er heute nicht gekommen ist! Und Viktor hob endlich den Blick von Klaras Top und sah seine Freundin auf einmal in ganz neuem Licht: Als ein Ausrufezeichen, schwarz, dürr, empört. Er seufzte: Martin und ich sind sehr verschieden, wir haben kein enges Verhältnis zueinander. Es war schon in der Kindheit so. Ich bin ihm nicht böse deswegen. Ach lieber Viktor, lächelte Klara mit einem bösen Zug um die Lippen, er ist dir aber böse, dass du der bessere Sohn gewesen bist, der begabtere, der dem Papa gefiel, der ihn als nicht so tauglich ansieht. Dein Bruder, lieber Viktor, schlittert ständig am Rande der Depression, des Alkoholismus. Außerdem ist er schwul.
Sie schlüpfte schnell in ihre Hose, als schämte sie sich, nackt zu streiten, und auch Viktor, der sich zugedeckt hatte, stand auf und zog sich an, sitzend, gekrümmt.
Sag doch endlich was, sagte sie.
Ich gehe spazieren.
Er ging hinaus und hörte, wie sie ihm hinterherrief: Dann hau ab, du Heuchler, Feigling! Er hatte nicht mit diesem Ausbruch gerechnet. Er fühlte sich, als steckte er in einem vollgestopften Schrank. Er erstickte und – Klara
Weitere Kostenlose Bücher