Der Gesang der Haut - Roman
als er seine verrückte Runde abgeschlossen hatte und versuchte, seinen Herzrhythmus zu beruhigen. Dem Gruß eines Passanten mit Hund (eines Patienten? Das Gesicht erinnerte ihn vage an jemanden) erwiderte er nur mit einem Nicken, unfähig, nur ein Wort zu ächzen.
Warum so sauer?, fragte er sich. Gerlachs wie Klara wollten dir eine nette Überraschung machen. Eine nette Überraschung. Die Wut zerrann langsam zu einem dickflüssigen Kummer. Wieso dramatisierte er jetzt die Sache? Vertrug er nicht, dass Klara ein Geheimnis daraus gemacht hatte? War er, der liebe Viktor, wie sein Vater, der gern alle Fäden in der Hand hielt und die anderen nach seinem Gusto lenken wollte? Hatte er die Leidenschaft für Ordnung von seiner Mutter geerbt, die keinem Geschirrtuch im Schrank erlaubte, aus den anderen hervorzugucken, und am liebsten ihre Kinder der Größe nach den Besuchern vorstellte? Zu Hause wollte er sofort Klara anrufen. Er würde fröhlich klingen, sich über die Überraschung freuen, sie fragen, ob sie jetzt wirklich hauptberuflich Sängerin werden oder weiter unterrichten wolle. Sein Interesse zeigen. Als er aber zum Hörer griff, klingelte das Telefon. Er wollte schon ihren Vornamen im freudigen, überraschten Ton ausrufen, als Tilo Jansen sich zu erkennen gab. Viktors Geist schwebte meilenweit von der Handballmannschaft entfernt. Tilo Jansen warf ihm vor, die Fete zu früh verlassen zu haben, eine spätere bombige Stimmung verpasst zu haben. Er schlug vor, ein Bier zusammen zu trinken, seine Frau habe heute Abend ihren Tangokurs. Tut mir leid, antwortete Viktor, ich warte auf einen Anruf. Tilo verabschiedete sich mit einem Scherz über Frauen und Liebeskummer, die Enttäuschung lag aber in seiner Stimme, und Viktor verstand, dass er vielleicht eine neue Freundschaft im Keim erstickt hatte. Er rief Klara nicht an, las noch einmal die Einladungskarte von Gerlachs und suchte im Internet nach dem Namen des Pianisten. Er fand eine belanglose Homepage. Ein Student. Nur ein paar öffentliche Konzerte, alles belanglos.
17
E r beschloss, schon am Wochenende darauf nach Königstein zu fahren, auch wenn Klara ihn nicht dazu ermutigt hatte. Königstein war knapp zwei Autostunden entfernt. Wieso hatte er Klaras unformuliertem Besuchsverbot gehorcht?
Er geriet in die aufschwingende Bewegung der Natur. Das fröstelnde Haar der Bäume, die ersten blühenden Büsche, der Schwarzdorn, der sich an jedem Weg ballte, frisches Gras und namenlose Pflanzen, die der Erden entsprangen und wuchsen, alles quellte-sprang-flog-schoss zu einem funkelnden neuen Leben empor. Auch er kam aus seinem Winter heraus, schloss die Tür hinter den Miasmen der Einsamkeit, den Sorgen der Praxis, die er ohne den Vater zu regeln suchte, der belastenden Freundschaft der Gerlachs, dem geheimnisvollen Besuch des sonderbaren Detektivs und auch hinter den wirren Gefühle Moira gegenüber. Jetzt schlug sein Herz im Takt des Befreiungsglücks, des Wiederkehrens und Wiedertreffens mit seiner Familie und Klara, der kapriziösen Klara, die er so vermisst hatte. Er fuhr zu schnell, das Blitzen eines Radars konnte aber kaum seine gute Laune mindern. Als er in Wiesbaden-Niedernhausen die Autobahn verließ, erblickte er ein junges, ziemlich heruntergekommenes Paar am Rand der Straße, das den Daumen hob. Er zögerte und hielt doch nicht an. Er sah im Rückspiegel, dass die Frau ihm den Stinkefinger zeigte, und ihr aufgerissener Mund formulierte unhörbar etwas wie »blöder Arsch«. Er würde sich das Glück nicht verderben lassen, er würde dieses Wochenende ganz und gar genießen, jede Minute. Er hatte mit Klara abgemacht, dass sie sich alle gegen Mittag bei seinen Eltern trafen, dann würden sie zu Klara fahren und den Abend genießen. Um zwölf war er in Königstein. Er fuhr die Straße hinauf, die zu dem Elternhaus führte. Jedes Haus links und rechts der Straße, jeden Vorgarten, jede der alten Linden kannte er, diese Straße war er eine Kindheit und Jugend lang gegangen, um in die Grundschule zu gehen, später, um zum Bahnhof zu gelangen und zum Zug, der ihn nach Frankfurt-Höchst fuhr, zu seinem Gymnasium, und später nach Frankfurt zur Uni. Damals, noch bevor er seinen Studienplatz in Frankfurt bekam, war es für seine Familie und für ihn absolut klar gewesen, dass er nicht umziehen und weiter bei den Eltern wohnen würde. Ich gebe dir eher das Geld für einen Bausparvertrag, als es für eine teure Miete auszugeben, sagte sein Vater. Viktor winkte einem
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