Der Gesang der Haut - Roman
Pfeife wieder anzuzünden, er sagte mit einem Augenzwinkern zu seiner Frau, die ihm sein Paffen nicht verzieh, ich will jetzt eine »ansünden«, und Viktor lächelte müde. Er kannte die Scherze, die Ansichten und Leitmotive des Vaters zur Genüge, seine Wortspiele und seine Klagen gegen eine junge Generation von Gott- und kulturlosen Ärzten und beantwortete sie schon lange nicht mehr. Er seufzte und schlug die Augen nieder. Seine Mutter warf ihm einen beunruhigten Blick zu, fragte, ob alles in Ordnung sei, und er antwortete: Ordnung ist überall, Mutter, nur nicht immer die gleiche. Während sie peinlich berührt den Vater ansah, der mit den Achseln zuckte, erinnerte er sich, dass er damals sein Kinder-Schüler-Studentenzimmer immer in der Ordnung der Mutter gehalten hatte, vielleicht hätte er doch mit einem zu ihm gehörenden Durcheinander experimentieren müssen, er hätte dabei ein bisschen geübt, sich im heutigen Verwirrspiel zurechtzufinden. Während die Mutter ihn aufmerksam musterte, senkte er wieder den Blick und versuchte seine Ordnungs-Unordnungs-Gedanken für sich zu verfolgen, fragte aber plötzlich: Was macht Martin, hatte er keine Lust, heute vorbeizukommen? Niemand antwortete, da die Mutter gerade rief: Ich höre Klaras Moped!
Er stürzte nach draußen und seine Freundin hatte kaum Zeit, ihren Helm auszuziehen, als er sie umarmte. Ach, hast du mir gefehlt!, sagte er und spürte ihre warme Haut unter dem Baumwoll-T-Shirt, und wie sie sich versteifte, als hätte er ihr einen Vorwurf gemacht, und vielleicht war es einer.
Die Frühjahrssonne hatte Klaras Haut schon leicht gebräunt. Ihre ungeschminkten Augen glänzten, sie strahlte Freude und Leichtigkeit aus, eine Jugendlichkeit, die ihm, glaubte er, abhandengekommen war. Sie nahm ihn an die Hand, sie liefen zusammen ins Haus, wo der Vater die beiden bereits am Mittagstisch erwartete. Er öffnete eine Flasche Weißwein, die Mutter brachte den Spargel, Sophie den Schinken und die geschmolzene Butter. Sie lenkte das Gespräch auf Gerlachs Einladung, Klara habe ihr erzählt, dass sie bei dieser Fete singen würde. Und zwar sogar mit einem prächtigen Honorar. Sie bezahlen dich?, fragte Viktor erstaunt. Warum nicht?, fragte Klara, hätte ich es ablehnen müssen? Nein, nein, beeilte sich Viktor, ohne den leicht aggressiven Ton seiner Freundin im nächsten Satz besänftigen zu können: Ich habe vor, meine Stelle an der Schule aufzugeben und jetzt eben nur noch Konzerte zu geben, wenn es geht, würde ich gern gleichzeitig mein Gesangsstudium zu Ende bringen. Du wusstest nicht, dass Klara wieder studieren will?, fragte Sophie. Doch, sicher, behauptete Viktor, ich wusste, dass Klara mit dem Gedanken flirtet, dass es definitiv entschieden ist, ist mir neu. Es ist auch ganz neu, sagte Klara. Die Eltern folgten dem Gespräch mit gleichgültiger Miene, Viktor wusste aber, jetzt stellen sie sich Fragen: Klaras Entscheidung ist sichtlich keine gemeinsame Entscheidung gewesen, vielleicht war unser Sohn nicht informiert, vielleicht missbilligt er Klaras neue Orientierung, und dies mit Recht. Sie hatte doch eine sichere Stellung. Warum müssen junge Frauen immer so unzufrieden sein? Er spürte, dass die Eltern auf seiner Seite waren, sonst hätten sie schon längst Partei für Klara ergriffen. Warum aber dachte er »Partei ergreifen«, es gab keinen Streit, er hatte doch nichts gegen Klaras Pläne geäußert, aber warum hatte sie nicht mit ihm darüber gesprochen, ausführlicher und nicht so en passant, und verblüffend war es, dass eigentlich die Gerlachs, die sie beide kaum kannten, am Ursprung der Entscheidung standen. Wie sonderbar. Er spürte den Blick der Mutter, und bevor sie das Wort ergriff, kam er ihr schnell zuvor: Ja, sagte er, es ist doch absolut okay, dann können uns vielleicht die Gerlachs helfen, dass du in Köln weiterkommst. Sicher kennen sie viele Leute. Du kannst bei Privatfeten wie jetzt bei ihnen auftreten. Er schaute zu seinem Vater: Du kannst dir kaum vorstellen, wie sehr der Doktor Gerlach von Klaras Talent begeistert war. Und zu Klara: Aber wir sollten uns umgehend erkundigen, ob du im nächsten Semester in Köln zu Ende studieren kannst. Okay, griff sein Vater auf, okay heißt auf Deutsch gut, schön, vortrefflich, richtig, prima und so weiter.
Erst am Nachmittag, als sie zusammen auf Klaras Bett lagen, erklärte sie, in Frankfurt bleiben zu wollen. Sie könne ihr Diplom da machen. Sie habe mit ihrer ehemaligen Professorin wieder Kontakt
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