Der Gesang der Haut - Roman
Mann zu, der seinen Wagen am Straßenrand wusch, mit dem war er in die Grundschule gegangen, der grüßte ihn mit dem Fensterleder zurück. Kurz darauf sah er Menschen, die schon im Garten grillten. Kinder spielten Fangen. Er fuhr an einem leeren Spielplatz entlang und sah einen Mann, der am unteren Ende der Rutsche saß, allein, mit hängendem Kopf, die Hände im Schoß. War das nicht sein Bruder Martin? Nein, aber er sah ihm ähnlich.
Vor dem Elternhaus hupte er zweimal kurz. Eine Gardine im Erdgeschoss wurde verschoben. Wenig später sprangen seine Mutter und Sophie nach draußen. Sophie war also auch gekommen, es war schön, beide in die Arme zu schließen. Er schloss auch die Augen und betete sekundenschnell: Ach Gott, mach bitte, dass alles im Leben meiner Familie und in meinem Leben in Ordnung bleibt. Er war schon seit drei Monaten nicht mehr in die Kirche gegangen. Er umarmte seine Mutter, als er den Vater in der Diele erblickte, groß und breit, vielleicht noch breiter als vor seiner Abreise, er erinnerte ihn an den Altkanzler Kohl. Er gab ihm die Hand, in der Familie küssten sich die Männer nicht, was Klara einmal ironische Kommentare entlockt hatte. In ihrer Familie knutschte jeder jeden ab, auch die, die sich nicht riechen konnten. Dies nicht zu tun glich einem Affront.
Er folgte den Eltern und Sophie zur sonnenüberflutenen Glas veranda, wo er Klara vermutete, eine Klara, die geduldig auf das Ende der Elternbegrüßung warten würde, um auf ihn zuzukommen. Es war nicht ihre Art sich vorzudrängen, ihm vor seinen Eltern um den Hals zu fallen. Klara war aber nicht zu erblicken. Er ließ seinen Blick nach draußen über die gemütlichen Gartenmöbel, die gepflegten Pflanzen schweifen, beglückwünschte seine Mutter zu der blumigen Pracht, sah auf die Apfelweinflasche, die ihn erwartete, ein Empfangsgruß für den verlorenen Sohn, wie seine Mutter, die hinter seinem Rücken stand, leise sagte, schaute nach draußen auf einen leeren Liegestuhl und fragte leise, ohne sich umzudrehen: Ist Klara noch nicht da? Und hörte: Sie kommt gleich, abgesagt hat sie nicht. Viktor spürte sofort wieder Freude in sich aufsteigen, ein warmes Gefühl der Erleichterung. Er drehte sich zu seiner Mutter hin, lächelte breit: Wie schön es ist, euch wiederzusehen!
Na, dann Prost, sagte der Vater, der Viktor ein Glas Apfelwein eingegossen hatte. Wie geht’s der Praxis? Von Tag zu Tag besser, sagte Viktor und begann, über sein neues Leben in Köln, die Praxis, die Gerlachs zu erzählen. Er nähte mit Worten seine zwei Leben, das alte und das neue, aneinander, als gäbe es eine Wunde oder einen Bruch dazwischen, scheiden tut weh, hörte er seine Mutter früher singen, er erzählte weiter, würzte seine Erzählung mit einer gewissen Ironie, einem Humor, der, wie er wusste, seiner Schwester gefiel, seine Mutter beruhigte, jedes Wort aber ein Stich, um zwei Hautlappen zusammenzuflicken. Er sprach und im Hintergrund erklang eine fremde Stimme, die seinen neutralen Bericht dementierte, seinen Humor entlarvte und sagte, nichts, nichts ist so einfach, wie du es beschreibst. Er trank den Apfelwein, imprägnierte seine Zunge mit dem gelben, säuerlichen Geschmack, spürte einen Sonnenschein seine rechte Gesichtshälfte erwärmen, roch Fleischausdünstungen aus der Küche, sah die kräftigen, behaarten Finger des Vaters, die ihn an Gerlach erinnerten. Der Vater befragte jetzt Viktor über seine Freizeit und lachte auf, als er hörte, Viktor habe sich in einer Handballmannschaft eingeschrieben. Was daran lustig sei? Nichts, sagte der Vater, von mir aus kannst du Handball spielen, Sport ist gesund, mein Sohn, aber muss es unbedingt Handball sein? Früher hast du doch Tennis gespielt? Du solltest dich auch in das kulturelle Leben der Stadt integrieren, Vernissagen besuchen, dich in einen Förderverein der Universität, der Bibliothek, weiß der Kuckuck was noch einschreiben. Nur so lernst du interessante Menschen kennen. Es folgte eine Tirade über die kulturellen Unterschiede zwischen jungen und alten Ärzten. Mediziner seiner Generation – so der Vater – zeigten wahrhaftes Interesse an der Malerei, der klassischen Musik, dem Theater, der Literatur. Heutige Uniabsolventen besuchten eher Messegelände, Alfa-Romeo-Treffen oder den Golfplatz, sie verdienten zwar weniger als früher, brächten aber auch weniger Idealismus an den Tag, hätten nur materialistische Einstellungen und so weiter. Traurig, traurig. Der Vater versuchte seine
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