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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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Plätzen, über ihr »Stolpern in eigenen Fesseln«, über ihre Unfähigkeit, Probleme einzuschätzen, (»eine blinde Stute kann ja keine Barriere überspringen«), über ihre »Schlechter-Verlierer-Mentalität«, die bei allen humorlosen Menschen zu beobachten sei. Zufallsspiele wie Roulette gefielen ihr besser, und früher waren sie beide gern ins Casino gegangen und hatten sich gegenseitig über ihre Verluste getröstet.
    Ob Gert noch in der Lage war, ein Loch zu treffen? Die Spielregeln respektieren, sich an die Etikette halten, sich zielstrebig auf den gezeichneten Wegen bewegen, konnte er das noch? Oder suchte er mit anderen Golfern Streit? Ob er vielleicht jetzt nur noch am Grün herumirrte oder nach verlorenen Bällen im Gebüsch suchte oder danach ewig in den Teich hineinglotzte, in dem sie verschwunden waren? Sie hatte ihn vor zwei Wochen – trotz seines Protests – begleitet und beobachtet. Er hatte beim ersten Anschlag das Tee betastet, als wüsste er nicht mehr, dass er dorthin den Ball setzen sollte. Darauf angesprochen, behauptete er, sie würden schief liegen. Beim siebten Loch hatte er vergessen, die Fahne wegzunehmen, bevor er schlug, und erst nach mehreren Versuchen kam er darauf und hatte beleidigt wütend die Stange weggeschleudert: Henrietta, wenn du dabei bist, bin ich völlig unkonzentriert! Gott sei Dank sah keiner zu. Am selben Tag hatte er den Ball in Richtung eines Spielers geschlagen und nicht mal »Ball« geschrien, wie es sich gehörte, und ihr wieder die Schuld zugeschoben. Du lenkst mich ab! Der Ball war ohne Warnung knapp an der Schulter des Mannes vorbeigerast. Außerdem hatte Gert viel zu lange auf seinen in einem Bunker gelandeten, aber sehr sichtbaren Ball gestarrt, als entdeckte er ein Ei im Sand. Er hatte zum Teil noch recht gute Schläge im ersten Teil gehabt, schließlich aber eine weit überhöhte Anzahl an Par gebraucht, um sein Ziel zu erreichen, er verpatzte die meisten und der Ball verirrte sich fast immer im Gebüsch. Du störst, Henrietta!
    Vielleicht ging Gert jetzt einfach durch das Gelände spazieren, mit seinem Golfschläger, seinen Bällen, dem Trolley und erinnerte sich nicht mehr, was er da zu suchen hatte? Ob er noch wusste, dass er seine erste wichtige Prüfung gefälscht hatte? Wusste er überhaupt noch, was ein Physikum war? Ja, das ganz sicher, er sprach noch sehr genau über die Vergangenheit, über ihre ersten gemeinsamen Jahre zum Beispiel, und er erzählte auch gern von seiner Studienzeit – mit den notwendigen Auslassungen. Es gab aber Augenblicke der Abwesenheit, er schaute orientierungslos oder vorwurfsvoll und griff sie an, wenn sie ihn ansprach: Was erzählst du da für einen Unsinn, kann ich mein Bier nicht friedlich trinken, warum musst du dich unbedingt mit mir unterhalten, wo wir uns ewig dasselbe vorkauen? Merkwürdig, wie genau und erfolgreich er noch manche Handreichungen, Handwerksarbeiten, Reparaturen ausführte: Neulich hatte er sich ein verstopftes Rohr im Bad vorgenommen, wusste nicht nur, wo sein Werkzeug lag, sondern auch, wie man das Knie eines Rohrs aufschraubte, er schimpfte über die Haare und den Dreck im Abfluss, ließ viel Unordnung auf seiner kleinen Baustelle zurück, aber das hatte er schon immer gemacht. Sie war für das Aufräumen zuständig, Frauen können wenigstens dies tun, wenn sie selbst unfähig sind, ein verstopftes Rohr zu reparieren, so der alte wie der neue Gert. Oder neulich, als sie sich am Arm kratzte und er ihr die Hand festhielt, sich die verkratzte Stelle anschaute, wo sich auch ein Leberfleck befand, seine Brille anzog, nee, sagte er, kein Melanom, meine Dame, das sehen wir mit dem bloßen Auge, so schnell bin ich dich nicht los. Und es schimmerte sogar Freundlichkeit in seiner gespielten Enttäuschung. Manchmal hatte er noch liebevolle Einfälle, ein Küsschen, plötzlich vom Himmel gefallen, als sie beide am Fenster eine Katze im Garten anschauten und so nah beieinanderstanden: Er küsste sie, nur ein Reflex, wer weiß, als sie sich zueinander drehten, vielleicht auch ein Anflug von Liebe, ein Hauch von Erinnerung an Liebe. Und bei dem Rohr, bei dem Kuss, fragte sie sich, ob er nicht den Kranken spielte, ob sein Alzheimer nicht eine neue Fälschung sein könnte, vielleicht um der Justiz oder nur der Selbstjustiz zu entkommen, den Vorruhestand vor aller Augen damit legitimieren, damit ihm niemand mehr etwas anhaben konnte. Sie hatte ihn nie zum Neurologen begleitet, auch nicht zum Scanning, und er

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