Der Gesang der Haut - Roman
gefallen. Ein Erdbeben, keuchte sie, ein kleines Erdbeben. Na so was, sagte Gert, der neben ihr kniete und besorgt aussah. Hast du dir weh getan?
Als sie den Wagen erreichten, ließ Gert einen letzten Blick zum Golfplatz schweifen, dann drehte er sich zu Henrietta, sein Blick war so melancholisch, fast zärtlich, dass sie eine sehr persönliche Mitteilung erwartete, etwas, was sie einander wieder näherbringen würde: Wie kurz, sagte er aber, sie den Rasen gemäht bekommen, und doch noch so frisch die Wiese.
Gert, der Rasen stand mir plötzlich an den Lippen, ich hätte grasen können.
Ach, ein Schwindelgefühl, mach dir deshalb keine Sorgen.
Nein, es war ein kleines Erdbeben, du kannst die Leute fragen. Hast du denn selbst nichts bemerkt?
Nein, sagte er, vielleicht war das Erdbeben nur an deiner Stelle zu spüren.
Ich bin noch kein Vollidiot. Du brauchst dich nicht lustig zu machen.
Tu ich nicht. Jedem kann es einmal schwindeln.
Er fuhr schweigend. Wir haben jetzt praktisch alle Zusagen auf die Einladungen erhalten, sagte Henrietta. Der Briefträger hat heute Morgen die letzten gebracht. Unsere Bekannten freuen sich alle.
Ich freue mich auch, besonders auf die kleine Sängerin, wie heißt sie noch.
Du weißt es genau. Klara, die Freundin von Viktor.
Ach, ist sie noch seine Freundin?
Gert lächelte ironisch und ließ abfällig folgen: Die beiden passen doch gar nicht zusammen.
Findest du, dass sie besser zu einem alten verrückten Bock wie dir passen würde?
Du allein siehst mich als alten verrückten Bock. Es ist eine optische Täuschung, nee, sagen wir eine Wunschvorstellung von dir.
Ich habe mir für dein Fest ein schönes Kleid gekauft.
Es wird dich nicht jünger machen.
Nein, aber eleganter, mein Lieber. Vielleicht solltest du dir auch etwas Neues kaufen.
Ihr Frauen habt nur das eine im Kopf: Kaufen.
Die Schlange kann sich häuten, der Hirsch bekommt ein frisches Frühjahrsfell, der Mann kauft sich halt einen neuen Anzug.
Auch mich werden neue Klamotten nicht jünger machen, und auch nicht eleganter.
Und ganz sicher nicht klüger, ergänzte sie.
Auge um Augen, Zahn um Zahn. Ihr erster Streit fand kurz nach der Hochzeitsreise statt, sie erinnerte sich nicht mehr weswegen, wohl aber an Gerts Tadel: Dir gibt man den kleinen Finger und schon willst du die ganze Hand. Er also sah sich als Gönner, sie als die Beschenkte, die dankbar und bescheiden bleiben sollte. Gert hatte mit einer bloßen Redewendung in ihrem Aschenputtelkomplex herumgestochert: Es entstand wieder das unsichere Mädchen, das der Prinz, der reiche Mann oder der klügste geheiratet hatte. Nach und nach aber entdeckte sie eine Methode, um Gerts Verletzungen zu überstehen: Sie musste sich nur dieses bewusst machen: Von einer Replik zur nächsten machte sich die Sprache selbständig, die Worte entschieden die Richtung und nicht Gert, nicht sie, die Worte prallten automatisch ab und zurück und man konnte sie schnell vergessen, verlorene Bälle im Gebüsch.
Sie schloss wieder die Augen, während Gert fuhr, um das Grasgrüne wieder vor sich zu sehen, ein Bürstenschnitt am Grünen, auf einem riesigen Schädel mit seinen Kurven, seinen Rillen und Rinnen, seinen Unebenheiten, den Buckeln und Mulden, sie spürte die Vibrationen der Erde unter dem Rasen und wünschte sich die völlige Erlösung und Auflösung ihrer Person. Ich wünsche mir, sagte sie, die völlige Auflösung meiner Person.
Gert bremste abrupt. Solche Wünsche, brummte er, gehen irgendwann in Erfüllung. Du machst wegen eines kleinen Schwindelanfalls viel zu viel Theater. Sie öffnete die Augen und sah die rote Ampel. Der Schwindler bist du, murmelte sie. Und er: Was hast du heute sonst gemacht, außer Kleider kaufen? Ein Kleid nur, und ich habe Viktor besucht. Viktor? Warum denn das? Warum belästigst du den armen Jungen? War er denn heute nicht in der Praxis?
Mittwochnachmittags ist doch die Praxis zu. Mittwochs, sagte sie, Mittwochnachmittags bist du meistens in ein Stundenhotel gegangen, mit irgendeiner. Sie schloss wieder die Augen, es drehte sich erneut alles. Der Arsch einer Frau bewegte sich auf und ab in einem Spiegel. Und du, fragte Gert sehr ruhig, was hast du Mittwochnachmittags immer gemacht, Henrietta? Haushalt, Einkäufe, auch die Buchhaltung habe ich erledigt, den ewigen Papierkram, mich um unsere Tochter gekümmert, und manchmal habe ich einen Kuchen gebacken und eine Freundin eingeladen. Gert? Du erinnerst dich wohl an deine Geliebte Carolin, oder?
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