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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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Aber, Viktor, die grün-gelbe Melodie des Scharbockskrauts, das früher den Skorbut der Matrosen heilte, schwächt meine Nostalgie nach Liebe nicht ab. Und es bleibt nicht bei der Nostalgie. Ohne dich hat sich die Welt nicht entvölkert, nein, ich erlebe keinen Untergang der Titanic, das Leben ist aber zum Comicstrip geworden, ein farbiger Zirkus ohne Ende. Da hüpfen kleine komischen Figuren herum und drücken sich onomatopoetisch aus, und ich nehme vor ihren kreischenden Gebärden Reißaus, stehle mich plump von Bild zu Bild davon und suche nach einem dreidimensionalem DU . Bist du schon am Vulkan? Macht dir die Höhe nicht zu schaffen?

20
    N ach und nach streckte also der Wald all seine Blätter in die Luft, auch die der ältesten Eichen zeichneten sich jetzt im klaren Himmel ab. Kaum angekommen, neigte sich der Frühling seinem Ende zu. Bald verloren die Büsche ihr leuchtendes Grün, sie verdunkelten sich, Rosenknospen schwollen an, Brennnesseln wuchsen, die Schatten der Bäume verdichteten sich, Insekten sirrten überall, die Patienten kamen mit glänzenden Gesichtern und schwitzender Haut in die Praxis, einige mit tieferen Ringen um die Augen, im Wartezimmer saßen Aknepatienten in breiten hängenden Shorts und Aknepatientinnen leicht geschürzt. Alte und Dicke keuchten, jeder zweite klagte sofort nach dem Gruß: Herr Doktor, es ist zu warm für die Jahreszeit. Manche rieben ihre Hände an den Hosen, bevor sie ihm die Hand reichten, ihre Achseln und Haare rochen stärker, es störte Viktor aber nicht, er tauchte gern in diese sommerlichen Ausdünstungen ein und streichelte und betastete die Haut seiner Patienten ohne Ekel. Bei zwei jungen Leuten entdeckte er Zecken, bei dem einem war die Borreliose schon am Werk. Eine Erzieherin des Kinderheims brachte ihm einen achtjährigen Jungen, der unter einem fortgeschrittenen Ausschlag litt. Der Junge trug außerdem frische Narben am ganzen Körper. Als Viktor die Gummihandschuhe abstreifte und in den Treteimer warf, sackten sie wie eine tote Qualle zusammen und er kämpfte, den Fuß auf dem Pedal des Abfalleimers, mit den Tränen. Die Erzieherin betrachtete ihn neugierig. Für Viktor war die Grausamkeit von Eltern, die Grausamkeit schlechthin ein Rätsel. Dass gerade das Wesen des Menschen sich dem menschlichen Verstand entzog, brachte ihn zum Verzweifeln. In solchen Augenblicken sehnte er sich sehr nach Klara und auch nach seinem Freund Leo, nach dessen Witzen, und wünschte sich eine kleine Flucht mit ihm irgendwohin in die Natur.
    Die längst nicht mehr täglichen Telefonate mit Klara wurden noch seltener. Es gelang beiden aber immer wieder, den lockeren Ton zu finden, wenn sie von seinen Eltern oder Geschwistern oder von Klaras Kollegen sprachen, er fragte nach ihren Gesangsfortschritten, wie sie sich für die Aufnahmeprüfung vorbereite. Ich arbeite zurzeit privat bei einer Professorin, die viel von mir hält und mir einen freundlichen Preis macht. Wir proben die Lieder, die ich bei Gerlachs vortragen werde. Du, ich glaube, es wird ein schönes Programm. Und zu Hause?, fragte er, begleitest du dich selbst oder hast du jemanden, der am Klavier sitzt? Ja, einen ehemaligen Kommilitonen, der Florian, Florian Lieske, den kennst du nicht, er wird mich auch bei Gerlachs begleiten. Viktor fand den Vornamen Florian lächerlich, ein Jünglingsname, ein mit Blümchen gekröntes Haupt stellte er sich vor, ein zartes Aussehen, einer, der mit langen weißen Händen auf den Tasten klimperte und der Sängerin schmachtende Blicke zuwarf. Sie fragte nicht wie früher nach seinen eigenen Beschäftigungen, als müsste sie, dachte er, seine Angelegenheiten in Klammern setzen, um ihr neues Bühnenleben wieder zum Erblühen zu bringen, er ließ sie gern erzählen und, seitdem er nicht mehr klagte, wie sehr er sie vermisse – schwieg er aus reiner Taktik, da sie diese Klage allein schon als Bedrängnis empfand, oder weil er sie nicht mehr vermisste?, fragte er sich zum ersten Mal erschrocken –, zeigte sie sich selbst freundlicher und verfiel manchmal sogar wie früher in alberne Zärtlichkeiten, sie sagte, sie freue sich, ihn bald wieder zu sehen, und nannte ihn wieder »mein Däumling«. Eine leichte süß-saure Ironie verlieh aber dem Kosewort einen eigenartigen Nachgeschmack. Es strahlte ein bitteres Gift in Viktors Kopf aus, das ihn momentan zusammenschrumpfen ließ. Es gab auch Gespräche, die ihn jeder Illusion beraubten. Von seinen Träumen von einem baldigen gemeinsamen

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