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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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wiederholte immer wieder, dass er gesünder sei als sie, dass sie ihm die Krankheit angedichtet hatte. Wie erschöpft sie war.
    Sie parkte vor der Anlage, unfähig auszusteigen. Sie fixierte das hohe Zaungitter der Anlage vor dem knallblauen Horizont und blieb an Visionen hängen: Sie heirateten im Sommer. Die Schatten scharf gezeichnet, alle Gesichter glänzend wie bei einem frischen Gemälde. Gert schwitzte in seinem dunklen Anzug, er erschien weicher, menschlicher als alle anderen, ein Wesen von Fleisch und Blut, während die Hochzeitsgäste einen konventionellen Hintergrund abgaben. Er war zu Fuß zur Kirche geeilt und seine Wangen waren rosig, sein Blick aufgeregt und amüsiert zugleich, seine Frisur zerwühlt. Er schaute provokant an seinen Eltern vorbei und bot dem Gefängniswärter den Arm der Braut an, während er sich die Gefängniswärterfrau schnappte und alle bei Mendelssohns Hochzeitsmarsch die Kirche betraten, seine verärgerten Eltern erst als drittes Paar. Das Mädchen Henrietta heiratete einen Mann, der sie am Tag davor gewarnt hatte: Meine kleine große Henrietta, ich glaube nicht, dass ich dir ein Leben lang treu sein kann, aber ich heirate dich gern, lieber als jede andere. Es war ein gelungener Hochzeitstag, ein großes Mädchen mit zu breiten Schultern verschwand unter einer weißen Spitzenlawine. Ihr Kleid wie das Restaurant hatten die Schwiegereltern bezahlt und Gert hatte extra das Teuerste ausgewählt, das sie finden konnten. Henriettas Glück aber war nach innen gekehrt und unsichtbar. Den prunkvollen Hochzeitstag empfand sie nicht als den schönsten Tag ihres Lebens (genieß, mein Kind, sagte ihre Mutter, den schönsten Tag deines Lebens), nein, das Ja in der Kirche war das Abfahrtsignal zu einer beschwerlichen und interessanten Expedition, das wusste sie, auch ohne Tropenhelm und schwere Wanderstiefel fühlte sie sich für dieses Abenteuer bereit, für gute und für schlechte Zeiten unbesiegbar.
    Für die Hochzeitsreise war geplant, sich einen Monat lang »in jedem banalen Hafen der Ehe zu lieben«: Sie fuhren die Nordseeküste entlang Richtung Westen und Süden, klapperten nach den Niederlanden die Strände und Klippen Belgiens und Nordfrankreichs ab, bevor sie die Normandie, die Bretagne, dann am Atlantik weiter La Rochelle, Bordeaux und Biarritz entdeckten. So sammelten sie die Häfen und Henrietta die Erinnerungen: Fotos, Hotelprospekte, handgeschriebene Menus, eine Muschel, den schönsten Kiesel am Strand, eine Blume, einen Casino-Chip, Tickets für Liegestühle, die bekritzelte Michelinkarte. Sie schickten Ansichtskarten an die gemeinsame Adresse, sie schrieb, er zeichnete nur Pornobilder darauf. Und als sie zu Hause war, schloss Henrietta alle ihre kleinen Schätze in einem Schuhkarton ein.
    Sie war kurz eingenickt. Das passierte ihr immer öfter. Ganz zu schweigen von den Migränen. So ein Mist. Das neue Leben, Fischers Drohungen, Gerts Krankheit, die Planung des Festes, alles setzte ihr zu. Sie sollten beide, Gert und sie, nach dem Fest verreisen und sich an einem Strand erholen, weit weg von Fischer, von der Praxis, an der Gert noch hing, weit weg auch von dieser Sanderia und ihrem Filmprojekt. Sie würde heute noch mit ihrem Mann darüber sprechen. Sand, glitzerndes Wasser, Palmen, kleine Fischrestaurants am Strand, er und sie.
    Sie holte ihn bei der fünfzehnten Spielbahn ein. Er spielte allein, für sich, und schaute erstaunt zu ihr: Ach, da bist du wieder. Darf ich noch die Strecke zu Ende spielen? Ich habe es mir heute nicht leicht gemacht. Sie folgte ihm auf den Fersen von Loch zu Loch. Sie stand einen Augenblick auf einer kleinen Brücke und beobachte, wie er den Ball ins achtzehnte Loch schob, wie konzentriert er ihn auf das Tee legte, wie er zum Abschlag ausholte, den Ball traf, dessen Flugbahn er wie gebannt verfolgte, sie sah zu, wie er mit offenem Mund schneller atmete und darauf wartete, ob ihm der Schlag geglückt war, und tatsächlich landete der Ball im Grün: Er drehte sich lachend zu ihr hin, na, Henrietta, was sagst du dazu? Es bedurfte höchstens noch zweier Schläge, um den Ball ins Loch zu befördern. Den hielt er fest in der Hand, schien das Wabenmuster im Handballen zu genießen und Kraft daraus zu schöpfen. Das perfekte Glück war für ihn mehr denn je ein gelungener Schlag.
    In diesem Augenblick wellte sich das Gelände, sie hatte Schwierigkeiten zu stehen, Gert, rief sie, Gert, was ist los? Der Rasen wuchs ihr an den Mund, sie war auf die Knie

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