Der Gesang der Haut - Roman
Frau Sanderia, schön, dass Sie schon da sind. Silvia, sind Sie so nett, der jungen Dame schon mal die Räume zu zeigen? Ich bin gleich soweit. Moiras Lächeln wurde noch breiter: Nehmen Sie sich Zeit, sagte sie mit warmer Stimme, ich selbst habe alle Zeit der Welt. Silvia schaute verdutzt. Okay, Chef, wir drehen eine Runde, ich zeige ihr alles, auch Geräte und Computer.
Die Tür fiel sanft zu.
Du hast mich noch nie Schatz genannt, sagte Klara am anderen Ende. Du kannst diese Art Floskel nicht leiden. Was war los?
Silvia kam gerade mit dem Mädchen herein, das sich für Marions Stelle beworben hat.
Ja gut, aber das erklärt dein »Schatz« nicht gerade.
Vielleicht wollte ich den beiden zeigen, dass ich in festen Händen bin, grinste Viktor.
Ist das nötig? Haben sie ein Auge auf dich geworfen?
Silvia ist selbst in festen Händen, glücklich verheiratet und Mutter zweier Schulkinder und hegt nur anständige Gedanken, und die Neue kennt mich noch nicht.
Jetzt war das Gespräch gerade da angelangt, wo es nicht sein sollte, doch fühlte sich Viktor nicht ertappt, obwohl er im Lügen völlig ungeübt war. Etwas in Klaras Stimme klang affektiert, ein unechtes Misstrauen, es flackerte eine Art Genuss darin, als sei sie gerade darauf erpicht, ihn bei einem Fehler zu ertappen. Wünschte sie sich vielleicht, dass er sie betrüge, eine Art, ihre Abwendung und neuerliche Kälte zu rechtfertigen?
Dem Gespräch fehlte es an Natürlichkeit. Er fragte Klara, was sie gerade anhatte, das schwarze Baumwollkleid vielleicht, das sie zusammen in Frankfurt gekauft hatten? Ob es schon sehr warm in Frankfurt sei, ob sie die Heizung abgestellt habe, ob es ihr gut gehe, sie habe neulich über Halsschmerzen geklagt, ob sie Nachrichten von ihren Eltern habe, ob sie seine Eltern diese Woche besucht habe, was hatte Mutti denn gekocht, habe sie mit seinem Bruder gesprochen, ob sie das schöne Wetter nütze, um frische Luft zu schnappen, im Taunus spazieren zu gehen, er fragte, wie es in der Schule sei, ob die Schüler immer noch so turbulent seien und der Schulleiter unfreundlich, er fragte nach dem einen oder anderen Freund, und natürlich fragte er, ob sie jetzt die Lieder für Gerlachs Abend beherrsche, er zog das Gespräch in die Länge, lauter Luftballons, die sie freundlich, aber lustlos wie ein verwöhntes Kind platzen ließ, nur die Frage nach dem schwarzen Kleid und nach den geübten Liedern lockte sie aus der Reserve, nein, sie habe ein neues Kleid an, pinkfarben, sie habe Lust auf frische sommerliche Farben gehabt, ja, sie habe diese Woche eine neue Melodie eingeübt, aus La Traviata, sie wisse noch nicht, ob sie nächste Woche so weit sein werde, sie vorzutragen, mehr wolle sie ihm nicht erzählen, das Konzert müsse auch für ihn eine Überraschung sein. Sie fragte nach dem Wetter in Köln und er antwortete, ein Gewitter braue sich zusammen. Er schaute der Kreuzspinne zu, die ganz langsam ein Bein streckte, Klara fragte bemüht nach der Anzahl der Patienten in der Woche, fragte neckisch (gekünstelt neckisch?), ob die Neue gut aussehe, ich weiß noch gar nicht, ob sie die Neue ist, antwortete Viktor, Klara erkundigte sich kurz nach der Gesundheit von Gerlach, dann stotterte sie: Ach, was wollte ich dir noch sagen, sie stockte, ach, jetzt ist es mir entfallen. Sie verabschiedete sich, sie wollte noch mit Kollegen ins Kino, ja drei Kollegen, nee, er kenne sie nicht, apropos, der Florian Lieske, mein Klavierbegleiter, der kommt übrigens auch zu den Gerlachs, das weißt du schon, sie haben ein Zimmer im Hotel für ihn reserviert, also dann mein Schatz, und sie lachte kurz auf. Sie ließen beide ihre Lippen schnalzen, es gab bei Klara zwei kurze schmatzende Geräusche, bei ihm ein einziges, das, mit einem Seufzer gemischt, wie eine kaputte Luftpuppe klang.
Laufen, Joggen, Rennen, wäre jetzt das Passende. Der Wald war fast sommerlich geworden, die Brennnesseln über einen Meter gewachsen, schmächtige, anonyme Waldblüten gingen auf, Stechmücken schikanierten die Spaziergänger, die sich auch bei schmalen Wegen vor den Zecken in Acht nahmen. Sobald er Moira abgefertigt hätte, würde er seine Laufschuhe anziehen und in den Wald gehen. Die Abende wurden jetzt länger. Er warf einen Blick durchs Fenster. Vielleicht platzte noch ein Gewitter. Ein Pfadfinder ging vorbei, sein dicker Rucksack rief Jugenderinnerungen hervor, lange Wanderungen mit seinem Freund Leo, als das Leben noch einfach gewesen war, sie beide Schüler, als sie
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