Der Gesang der Haut - Roman
katholisch?, fragte Viktor.
Bin ich eine Glocke? Ich hänge an keiner Kirche, grinste Moira, ich glaube an die Zeit, die vergeht, an die Planeten, die sich drehen, an gutartige Hände, die mich festhalten, an die Zunge eines Mannes, die Billionen von Mikroben in meiner Mundhöhle mischt und Trillionen von glücklichen Zellen in mir umrührt, und ich glaube an mich.
Du Selige, sagte Viktor, und nuckelte an Moiras Brüsten. Ich bin katholisch und gehe manchmal in die Kirche. Du glaubst nicht an Gott?
Ich glaube an göttliche Zustände. Ich ging in Afrika regelmäßig in die Kirche. Es ist ein schöner Rahmen für hysterische Gefühle, man fühlt sich da weniger allein, man heult im Chor nach der Liebe, von Liebe zum Nächsten aber keine Spur, nein, sie beten kaum für die Welt, nur kurz als Einführung, damit es nicht zu persönlich aussieht, dann erbetteln sie sich ein Almosen für sich und die Ihren, Gott soll sie zuerst mal privat lieben. Gut so, aber dafür brauche ich keine Kirche.
Irgendwann gingen sie essen. Moira erzählte beim Nachtisch, Gert Gerlach habe nie zu seiner Frau »ich liebe dich« gesagt, er habe damit ein semantisches Problem, er wisse nicht, was das Wort bedeute, lieben, es sei ihm zu vage. Ehrlich, Herr Gerlach, Sie spinnen, habe sie geschimpft, auch ein Mensch wird benannt (sagte Moira), obwohl niemand weiß, was ein Mensch ist, auch im Urvolk der Gefühle müsse man mindestens grob unterscheiden können. Als Säugetier ist der Mensch zur Liebe, das heißt zum Anhängen (an jemandem hängen) absolut verurteilt.
Ach so, sagte Viktor, dann lieben ja alle Säugetiere.
Sicher, aber nicht so kreativ wie der Mensch. Der Mensch ist ein schöpferisches Geschöpf, er versteht es, mit Pinseln und Stift umzugehen, kann verklären, erklären und verdunkeln, wie es ihm passt.
Wir sprechen über die Liebe wie zwei Frauen unter sich, Viktor. Dafür mag ich dich besonders, sagte Moira später, Liebe ist für Männer oft eine reine Frauenangelegenheit, als wären alle Frauen lesbisch, Männer schweigen schamhaft darüber. Sie verfügen manchmal nicht über das nötige Vokabular. Du eigentlich auch nicht, aber zuhören kannst du prima.
Später lagen sie wieder auf seinem Bett und Viktor dachte vergnügt, er habe hier zwei rätselhafte Frauen kennengelernt, die kluge und verrückte Frau Gerlach und die verrückte und kluge Moira, deren Rücken er jetzt liebkoste und küsste, streichelte und massierte, kitzelte und kratzte, leckte und schnupperte, roch und einatmete, und, wenn er damit aufhörte, legte er sein Ohr auf diese Haut, die er atmen hörte. Ihm schien, er höre Zellen wachsen und sterben, Blut fließen, Leben aufblühen, und mitten in seinem Verlangen brannte auch eine Nostalgie nach einer Rückkehr, die niemals stattfinden konnte, da es keinen Ort gab, zu dem er eine Rückkehr wünschte. Er war ja kein Odysseus, nur ein kleiner Arzt, und die Körper der Patienten seine Insel.
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A m Montag waren alle Patienten ziemlich gesund oder auf dem Weg der Besserung und Viktor begnügte sich damit, harmlose Krankheiten zu entdecken, leichte Allergieprobleme zu behandeln und einer Dame mit zu schmalen Lippen von Hyaluronsäurespritzen abzuraten. Viele mausersüchtige Menschen sehnten sich, die alte Haut abzustreifen, überall herrschte eine reptilienhafte Lust nach Häutung, die Viktor leider nicht befriedigen konnte. Verzweifelte Jugendliche, Frauen und sogar Männer klagten über fettige Haut, Haarschuppen, Orangenhaut, Akne. Verschämt verlangten sie nach magischen Salben und Pülverchen, die Radikalsten nach Botulinustoxin. Viktor gab sein Bestes, wie immer versuchte er es mit einem kurzen Kneten der Orangenhaut, einem Streicheln der befallenen Stirn mit sanften, beruhigenden Worten, ach wissen Sie, weißt du, ich sehe und spüre da überhaupt nichts Schlimmes, Frau Becker, junger Mann, Mädchen, und mit ein bisschen Sport … Manchmal hatte er das Gefühl, er müsse sehr schnell seine Hand wegnehmen, weil die reifere, einsame Dame den sanften Druck zu sehr genoss, ihn als exklusive Zärtlichkeit fehlinterpretierte, weil die Pubertierende zu nahe am Wasser gebaut war, weil der Jugendliche einen Vater hatte, der ihm nur mit einem kumpelhaften Stoß in den Rippen begegnete, mehr als je spürte er die Einsamkeit ihrer Haut, die sich unter seinen Fingern gefährlich erwärmte.
Moira bewies schon in den ersten Tagen ihre Fähigkeiten. Abwechselnd mit Silvia assistierte sie Viktor und ließ sich von ihm
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