Der Gesang der Haut - Roman
die Post. Sie ließ die Umschläge durch die Hände gleiten und entdeckte sofort einen Brief der Detektei Fischer.
Sehr geehrte Frau Gerlach,
Sie feiern also die wohlverdiente Pensionierung Ihres Mannes. Wir freuen uns sehr für ihn und werden bei dem Fest nicht fehlen. Im Namen meiner verstorbenen Frau, Carolin Leitner, die sich so gefreut hätte, dabei zu sein, bereite ich jetzt schon eine kleine Überraschung vor, eine Ansprache (nichts Langwiriges, in der Kürze liegt die Würze), die ihre Gäste erfreuen wird. Aber vielleicht sehen wir uns noch vorher? Hochachtungsvoll, Ihr ergebener Ludo Fischer.
Sie starrte auf das Wort »Langwiriges«, als wäre der Rechtschreibfehler das Schlimmste an dieser Nachricht, eine Bestätigung dieses »in der Kürze liegt die Würze«, und hörte das Lippengeräusch des rauchenden Gerlach, ein friedliches Geräusch, das sie mochte, ein kleines platzendes Bläschen. Die Pendeluhr ließ acht dunkle Schläge erklingen, und bei jeder Schwingung wurde es Henrietta übel, als würde ihre Hinrichtung angekündigt.
Ich bringe das Schwein um, murmelte sie. Sie spürte, wie sich ihr Körper verkrampfte, schaute starr vor sich hin, wie sie mit einem Stein auf den Kopf des auf einem Gartenstuhl sitzenden Detektivs einschlug, wie Knochen zerdrückt wurden, Blut spritzte, wie sie den blutverschmierten Stein ansah, sich die klebrigen Haare merkte, wie sie mit den Zähnen knirschte, als sie Gerts Stimme hörte:
Was machst du für ein Gesicht, Henrietta? Hast du Schmerzen?
Sie reichte ihm den Brief, den er belustigt überflog: Ach, das schon wieder? Vergiss es. Wann essen wir zu Abend? Ich mache schon mal die Nachrichten an.
(Moira)
W ährend du dich über die Haut deiner Patienten neigtest, wechselte ich öfter den Film. Alle Filme wurden zu Membranen eines einzigen Körpers, ein Leib, in dem ich euch einschließen wollte. Sind auch Filme Gefängnisse? Ihr seid mir entflohen.
Mich juckt es unter dem Gips. Ich kriege ihn bald ab und erfülle mir damit einen menschlichen Wunsch: sich Häuten.
In der Frühjahrsluft blühten die Apfelbäume. Ich dachte also daran, mich zu verzetteln. Meine Kamera wollte ich nach Königstein spazieren führen, ein bisschen Frühling im Taunus schnuppern, ein paar Gedanken auf dem Gesicht deiner Klara festhalten, daraus schließen, was in ihrem Kopf vorgeht, in dem zurzeit komische Vögelchen nisten, einer Klara, die gerade ihren Mund zu einem so langen und breiten OOO aufreißt, dass man ihr ein Ei reinschieben könnte, am Klavier der Typ, ehemaliger oder zukünftiger Kommilitone, Bewunderer und Freund Fabian oder Florian, ich sollte mir die Namen der Komparsen aufschreiben, ich vergesse sie immer wieder, Florian, der sich im Hintergrund hält, hinter dem Flügel versteckt, aber Klaras Stimme mit seinen sensiblen Akkorden in weiten Höhen zum Schweben bringt. Sie holt die verlorene Zeit nach, entfaltet sich glänzend, eine Künstlerin wird geboren und baut sich ihre eigene Welt. Ich fuhr aber nicht nach Königstein, freute mich dafür auf ein Wiedersehen in der Praxis des Mannes, der mir so gut gefiel. Außerdem steckte meine Kamera derzeit zu sehr bei Gerlachs und brütete Dramatisches. Gert ist ein Erzählgeysir. Er vertraut mir sein Leben an, hemmungslos, auch er hat keine Zeit zu verlieren, kaum bin ich in seinem Zimmer, sprudelt er los. Wir sind längst weg von der Dermatologie, er fokussiert seine Geschichte auf Henrietta und andere Frauen, die er geliebt hat, er sagt geliebt , ich lächle gnädig. Doch Henrietta hat er in der Tat lieb gehabt, und er hat sie noch immer lieb, glaube ich, obwohl die Fetzen fliegen, obwohl die Arme spinnt und überall erzählt, er leide unter Alzheimer. Manchmal spielt er mit, sagt er, »um sie nicht noch mehr zu verwirren« und weil es doch »ganz nebensächlich« sei. Sie sei krank, sehr krank, verweigere sich, ihre Krankheit wahrzunehmen, verleugne sie, sie verdränge die Symptome, und er lasse sie. Auch ihre Eifersucht sei krankhaft oder sie sitze an der Quelle der Krankheit. Ist immer da gewesen, sagt Gerlach, die Eifersucht, immer da. Henrietta wirft mir argwöhnische Blicke zu, die mich erschaudern lassen, aber, soweit ich von Gerlach unbeeinflusst in dieser Geschichte durchblicken kann, hatte sie ihr Leben lang berechtigte Gründe zum Misstrauen. Der alte Don Juan hat mir erzählt, dass er Henrietta aus »einer Art Mitgefühl« und auch aus Trotz geheiratet hat. Er wollte diesem besonderen Mädchen »eine Freude
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