Der Gesang der Haut - Roman
machen« als »eine Revanche« ihrem schrecklichen Elternhaus gegenüber, ihm gefiel außerdem, gegen die Erwartungen seiner bürgerlichen Eltern anzugehen, er hatte das Gefühl, sie mit dieser Hochzeit im höchsten Maß zu beschenken und rebellisch zu handeln, neue Werte zu setzen. Ich fand seine Motivationen sympathisch, tat aber leicht indigniert: Wie kann man aus Mitleid heiraten, mein Herr? Man respektiert nicht, was man bemitleidet. Ein gemeiner Gemeinplatz, sagte er, er habe nicht gewollt, dass dieses Mädchen untergeht, nein, er habe keinen Helferkomplex, auch als Arzt nicht, nein, es sei eine Frage der wahren Intelligenz, der tiefsten Menschlichkeit (wahre Intelligenz und tiefe Menschlichkeit nannte er als die höchsten Tugenden überhaupt, die er selbst natürlich besaß!), niemand habe Henrietta geliebt, und nach dem Motto, irgendjemand muss es tun, habe er es getan. Und Henrietta sei sehr liebenswürdig gewesen, sie habe eine anziehende Kraft, die er gespürt habe, eine Loyalität, die seiner Familie und ihm selbst immer gefehlt habe, keine Schönheit vielleicht, ein bisschen spröde, nicht gerade spritzig, aber eine Persönlichkeit, schon in jungen Jahren von der Härte des Lebens geprägt, keine verwöhnte Göre wie seine eigene Mutter. Und ich solle nicht glauben, dass die physische Liebe, das Jubeln der Sinne darunter gelitten hätten, denn im Bett habe Henrietta eine klitzekleine masochistische Art, die der raffinierte Gerlach später eifrig aufblühen ließ und die ihn sehr anregte (ich glaube ihm gern, dass er ein guter Meister war), mindestens in den ersten gemeinsamen Jahren. Diese Frau ging ihm unter die Haut, es sei schwierig, das jetzt nachzuvollziehen, gab er zu und erzählte ungeniert Dinge, die dich zum Erröten brächten und die im Film ein Massenpublikum anziehen würden, also ich behalte sie für mich, fördere damit deine Fantasie, und wir werden eventuell – in einem anderen Leben – deren Früchte zusammen ernten. Henriettas Eltern haben sie auf eine verzogene Art erzogen, eine perverse, nein, es ging nicht um klassischen, polizeilich anzeigbaren Missbrauch, viel mehr um bizarre Strafen und Einschüchterungen. Der Vater habe sie zu seiner Arbeitsstelle gebracht, er war ja Gefängniswärter, und mit der Komplizenschaft der Kollegen habe er seine achtjährige Tochter zur Strafe (welches Verbrechen kann ein kleines Mädchen begehen, einen kleinen Diebstahl? Eine Angstlüge?) einen Sonntag lang in eine Zelle eingesperrt, damit sie erlebe, was bösen Mädchen blüht, die ihrem Papa nicht gehorchen. Nicht Henrietta habe ihm davon erzählt, die den verdammten Tag tief in die Verdrängungszellen ihres Gehirns verbannt habe, sondern der naive Gefängniswärter selbst, der bei Gert mit seiner strengen Erziehung prahlte und ihm sagte, es sei bei ihm nichts zu holen, außer einer anständigen Tochter.
Und jetzt eine kurze Abschweifung:
Mein Schwiegermütterchen hat nur eine Woche geschmollt. Dann ihren Sohn selbst eingeladen sowie seine Lebenspartnerin und ihr Monstrum, das sie mit einem Puzzle (Amerika) willkommen hieß. Der kleine Herr saß auf dem Boden, vor ihm ein chaotischer Archipel, und nach fünf Minuten hatte er die meistens Kartonstücke verbogen, weil er unpassende Teile gewaltsam ineinanderschob.
Hast du den Stella Point erreicht?, vielleicht hast du es bis zum Uhuru Peak geschafft. Ich hoffe, du hast da oben keinen Nebel, nur eine klare Sicht, du kannst deinen Sieg mit Sekt feiern und vor allem, dass du noch Sohlen unter den Schuhen und die Kraft hast, mit deinen Trägern hinunterzugehen. Der Kilimandscharo-Gott soll dir gnädig sein und dich von allem Kummer reinwaschen. Wirf alle dich sengenden Gedanken in den Trichter des Vulkans.
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I m Wohnzimmer ließ sie die Vorhänge abgleiten, die sie waschen wollte. Es waren Vorhänge aus weißer Baumwolle, ein schwerer Gitterstoff, der die ganze Breite des Terrassenfensters verschleierte. Sie besaßen die Vorhänge seit ihrem Einzug in diesem Haus vor dreißig Jahren und waren mit ihnen zusammen ergraut. Sie hätte sie gern gegen Rollos oder pflegeleichte Schlaufenvorhänge ausgetauscht. Gert aber lehnte jede häusliche Veränderung ab. Nur die Frauen hatte er gern gewechselt. Jede weitere Änderung glich für ihn überflüssigem Energieverbrauch. Wenn sie das Thema Vorhang ansprach, ließ er den Blick über die alte Stofforgel schweifen und sprach sein übliches Motto: Hängt dein Glück an einer Gardine? Wie spöttisch er dabei
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