Der Gesang der Haut - Roman
Flasche Kölsch direkt an die Lippen, und alle versuchten sich zu erinnern, wann sie sich zum letzten Mal getroffen hatten, bei welchem Geburtstag, welcher Beerdigung. Viele ältere Semester, einige alleinstehende Frauen, zwei braun gebrannte Fünfzigjährige, die Gert Gerlach insistierende Blicke zuwarfen, extra aus Gran Canaria, mein Lieber, sind wir für dich zurückgeflogen, die Liebe zu unserem Gerti gebot es. Noch eine Weile würde es dauern, bis die Lebhaftesten unter Alkoholeinfluss standen, bis der Garten von lauten Stimmen und schrillem Lachen hallte. Silvia und Marion wurden von ihrem ehemaligen Chef umarmt und zu ihrem charmanten Aussehen beglückwünscht, und Viktor freute sich über die Ankunft der beiden wie über ein Stück Normalität. Patienten oder Ärzte konnte man hier nicht unterscheiden, alle todschick und ausgelassen, gratulierten sich zum schönen Wetter, zum lauen Spätfrühlingsabend, ein solches Glück, es hätte ja auch regnen können.
Als Frau Gerlach in ihrem neuen schwarz-weißen Kleid aus dem Haus trat – gut sah sie aus, von ihrer Tochter dezent geschminkt und gut frisiert, das Haar blond gefärbt –, eilte sie durch die Gästemenge, grüßte hektisch beim Vorbeigehen, versprach, sofort wiederzukommen, es müsse noch einiges erledigt werden, und verschwand hinter dem Haus, wo sie allein vor dem leeren Schwimmbecken, die Augen stur auf den schmutzigen und rissigen Kachelboden gerichtet, den lieben Gott bat, Fischer auf dem Weg hierher verunglücken zu lassen und ihn dabei so zuzurichten, dass nicht einmal der Teufel den Mann in der Hölle erkennen könne. Sie setzte sich einen Augenblick auf die schmutzige Kunststoffbank am Rand des Beckens, der Typ hat uns das Wasser abgegraben, warum haben wir es zugelassen, mein Fehler, wenn ich damals den Auftrag nicht vergeben hätte, aber Gert hat einen Plan, Viktor wird uns beistehen. Gert und Viktor. Sie retten uns aus diesem Schlamassel. Im Becken schwammen jetzt muskulöse Körper, der schöne Gert, der Viktors Gesicht annahm, ihre zwölfjährige Tochter wagte einen Kopfsprung, sie selbst kraulte unermüdlich hin und her. Morgen, ich werde schon morgen eine Firma anrufen, wir lassen das Schwimmbecken renovieren.
Sie kehrte voller Zuversicht, aber mit feuchtem Hintern in die Gesellschaft zurück und orientierte sich an Viktor, der wie die anderen Gäste in Moiras Gravitationsfeld stand. Klara hatte sich mit ihrem Gert zu ihm gesellt, Gerlach hatte einen besitzergreifenden Arm auf die Schulter der jungen Frau gelegt und stellte sie den Menschen links und rechts vor als »wahre Überraschung des Abends«, eine fantastische Mezzosopranistin, Sie werden es gleich hören, ein Talent, das wir zufällig entdeckt haben, das ich, wir, meine Frau und ich, fördern wollen, machen Sie sich auf etwas gefasst, meine Damen und Herren. Es erhob sich ein Raunen in der Gesellschaft, man blies das Wort Überraschung in die Sektgläser, man schaute auf die zierliche Erscheinung im Goldkleid, Gerlach wollte Klara schon zum Klavier führen, als Henrietta, wieder ganz bei sich, ihn stoppte und sagte: Nach dem Vorspeisenbüffet, Gert, warte noch ein bisschen, ich möchte zuerst … eigentlich habe ich gedacht, dass ich … Klara unterdrückte Gerlachs Proteste, indem sie ihm ins Ohr flüsterte, dass sie genauso gut vor den Hauptgerichten einen Teil des Programms singen könne, oder vor dem Nachtisch … ja, zuerst der Leib, dann der Geist, ich hätte auch Lust, mich jetzt auf diese schönen Leckereien zu stürzen. Dann stürzen wir uns zusammen, lachte Gerlach. Ich hatte gedacht, wiederholte Henrietta. Doch Gert hörte das Ende des Satzes nicht, falls es ein Ende des Satzes gab. Er kündigte laut an, das Büffet sei eröffnet. Ein Stück auf ihrem Bandoneon vortragen wollte Henrietta, eine leichte französische Melodie, das Instrument wartete griffbereit in der Bibliothek, aber auch wenn sie ihren Gedanke hätte zu Ende formulieren wollen, wäre sie nicht dazugekommen: Ihr stockte das Herz, als ein schlecht rasierter Mann auf die Terrasse geführt wurde, der einen imposanten Strauß Pfingstrosen und Lilien vor der Brust hielt, deren weiße, weiche Blüten im Kontrast zum schwarzen Cordanzug standen, einem viel zu warmen Anzug für die Jahreszeit,mit dunklem kragenlosen Shirt, ein Künstler dieser Stadt, vermuteten manche, der nur ein gutes Stück in seiner Garderobe besaß, ein schüchterner Poet, der das Kinn in die Blumen steckte und es mit gelbem Staub
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