Der Gesang der Haut - Roman

wie jedes Jahr betrübten sie die rostigen Stellen. Eisern demonstrierten sie Henriettas Ohnmacht, Schönheit und Glück festzuhalten. Sie brabbelte etwas vor sich hin und drehte böse verblühte Dolden in ihrer Reichweite ab. Sie zerdrückte die Dolden in der Faust. Das Frische, das Krümelige überraschten sie. Sie rieb die vertrockneten Blumen zwischen den Fingern, öffnete die Handfläche und roch daran, schnitt enttäuscht eine Grimasse. Der Duft des Flieders hatte sich verflüchtigt. Ein Stich an ihrer linken Schläfe. Sie fasste sich an den Kopf, sprach sich das Leid aus der Seele: Ich bin eine Vogelscheuche, aber Vögel flattern angstfrei um meinen Kopf herum, sie piepsen, provozieren, sie fürchten sich nicht von mir, so viel Nebel macht sie kühn. Sie lauschte ihrer Off-Stimme nach, schaute verloren. Eine solche Traurigkeit möchte ich nur spielen können, alles echt, leider leider, echt, alles echt. Ich liebe ihn noch, Gert, meinen Gert, Gerts poetische Anfälle, Gerts bizarre Launen, den Kern des Guten in seiner Bosheit, den Kern des Bösen in seiner Güte. Mich hat er ausgewählt und von allen anderen unterschieden. Nein, das stimmt nicht, ich habe es mir eingebildet, nein, ich habe mir nur damals eingebildet, dass ich es mir eingebildet habe, damals, wegen Carolin, das stimmte aber nicht, er liebte sie nicht, ich weiß nicht mehr, was stimmte, er hat mich oft verhöhnt: Alte Schachtel, du blöde Kuh, Dampfwalze, Scheißweib. Ein taubes Ohr hörte es, das andere, das feine Ohr hat anderes vernommen: Meine Frau, meine Herausforderung, mein Visavis, meine Gegenspielerin fürs Leben. Er schlief selbstverständlich mit X und Y, gertenschlanken Ypsylons und biegsamen Xen. Die Kopfschmerzen werden schlimmer, die Migräne eskaliert. Wie halte ich das aus? Er hat mich geliebt, ich war anders als seine Puppen, ich bin anders, ich war schon eine Ausnahme, auch ich habe mich mit maßlosen Worten schuldig gemacht, gedacht oder gesagt ist dasselbe, das Leben bestraft mich, das Leben als böse Mutti mit eiskalten Waschlappen, die auf den Rücken klatschen, hässliche Verwünschungen, krepiere du Teufel, hässliche Flüche, ich hasse dich, Lustmolch, Mädchenficker, oberflächlicher Grapscher, die Tiefe hast du nur in Frauenvaginas gesucht, du, der du nicht weiter siehst als dein läppischer Schwanz, dermatologischer Lover, Epidermislecker, pathologischer Pathologe. Sie lachte, nahm ihre Beschimpfungen nicht ernst, ein kreativer Anfall, hielt sich eine frische lila Dolde an die linke Schläfe. Niemand hat’s gehört, ihre Tochter ist noch nicht da, die eigenen Eltern schon lange tot, wie gut, eines natürlichen Todes gestorben, schade, schade, ich hätte mir gewünscht, sagt die Off-Stimme, dass ein Knacki den Papa fickt und würgt und ihm vorher in den Mund spuckt.
    Jetzt sprangen im Garten lauter kleinformatige Henriettas herum, nackte Henriettas. Sie hielten sich Eiswürfel an den Kopf, Kopfschmerzen, Kopfschmerz als Poststempel vom Teufel, Hirntumor der Gehörnten. Die Mädchen spielten trotzdem Bockspiele, besprangen sich gegenseitig, ihre weißen Röckchen flatterten hoch, Henriettas purzelten am laufenden Band, sie rollten sich im Gras.
    Sie ging in die Küche zurück, holte Eiswürfel aus dem Kühlschrank, kochte einen starken Kaffee. Wo steckten die Tabletten? Wie würde sie den Abend erreichen können? Die Terrasse war voll blutender Henriettas, lauter Fehlexemplare. Mein Kopf ist dreckig wie eine Zigarettenkippe. Rauchige Gedanken, beschissene Erinnerungen, schmutzige Sorgen wegen des Detektivs, dieser kleinen Sängerin, in die er vernarrt ist, stellen Sie sich vor, er hat der Göre ein seidenes Abendkleid gekauft, und diese falsche Journalistin, die druckschwarze Moira, was will sie denn von uns, alle schicken mir ihre böse, böse, böse Ausstrahlung.
    Sie spürte Übelkeit, die Migräne, oder was sich da abspielt, es lauern sowieso immer mehr Schmerzen um sie herum, Ratten, eine Ratte an der Schulter, eine Ratte auf dem Kopf, eine Ratte beißt ihr die Finger, das Knie, die Blase.
    Hört auf, sagte sie. Hört auf, Theater zu spielen.
    Am liebsten würde sie dieses Fest absagen, alle Gäste jetzt und sofort ausladen. Und plötzlich, als hätte sie eine Brille aufgesetzt, klärte sich alles auf: Es geht mir gut, Ich mache mir nur vor Angst in die Hose.
    Weißt du, dass du vor dich hin brabbelst, sagte Gert, der seinen Kaffee seelenruhig trank.
    Ich dachte an Fischer. Er kommt heute Abend mit einem Skandal