Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
fraß sich mühelos durch den Knochen, wurde nur etwas lauter, wenn sie auf härteres Knochenmaterial stieß, bezwang den Schädel schließlich rundherum, bis der Kreis geschlossen war.
Ernst legte die Säge beiseite, nahm nun einen Meißel zur Hand. Es war ein hammerähnliches Gerät mit flach zulaufender Spitze, dort, wo man es in der Hand hielt. Mit dem T-Stück schlug er dreimal ringsum auf das Schädeldach, etwa so, wie man ein Ei zum Pellen vorbereitet. Zum Schluss steckte er die flache Seite des Meißels in die gesägte Nut. Er fasste das Gerät am TStück, bereit zu vollenden, was er begonnen hatte. Zuvor ging sein Blick zu Heinlein, er wollte seine Reaktion nicht verpassen.
Eine kleine Drehung des T-Stücks genügte, ein hohles Knacken, und das Schädeldach sprang auf. Heinlein knickte leicht ein, fing sich aber sofort wieder.
Ernst nahm das Schädeldach wie einen Deckel ab.
»Voilà. Es ist angerichtet.«
Das blassweiße Gehirn kam zum Vorschein. Pia nahm eine Pinzette und ein Skalpell zur Hand. Mit der Pinzette griff sie die harte Hirnhaut, hob sie an, um mit dem Skalpell einen großzügigen Kreis zu schneiden. Zwischen Gehirn und Hirnhaut trat Blut aus. Es rührte nicht vom Schnitt her, sondern hatte sich aufgrund der Schussverletzung dort angesammelt.
Sie legte Hirnhaut und Pinzette beiseite. Ernst kam wieder hinzu. Er musste nun die gesamte Hirnmasse anheben, damit Pia die Nervenstränge und das Rü-
ckenmark an der Schädelbasis lösen konnte. Er griff an der verbliebenen Hinterkopfschale am Nacken tief hinein, fasste zu und hob an. Ein Schnitt, noch einer, und Pia hatte das gesamte Gehirn von der Leiche getrennt.
Ernst legte es in die stählerne Waagschale. Der Zeiger schlug aus. »Eintausendzweihundertfünfzig Gramm.«
Karl wiederholte das Ergebnis in das Aufnahmegerät.
»Dann wollen wir mal sehen, was wir da haben«, sagte Pia. Sie hatte ein langes Messer zur Hand, das eher einem Tapeziermesser oder der breiten Klinge ähnelte, mit der Crêpes gewendet wurden.
Ernst platzierte das Gehirn auf einem hölzernen Schneidblock. Pia setzte die Schneide des Messers genau im Zentrum des Einschusslochs an. Mit der anderen Hand hielt sie das Gehirn von oben fest. Der Schnitt ging horizontal durch die Masse, immer den Schusskanal in der Mitte entlang. Nachdem sie am Ausschussloch angekommen war, legte sie das Messer beiseite und nahm die obere Gehirnhälfte ab. Vor ihr lagen nun zwei Teile, die beide die Hälfte des Schusskanals zeigten.
Karl notierte in das Aufnahmegerät: »Nach FlechsigSchnitt zeigt sich der Schusskanal. Er ist ungefähr doppelt so groß wie der Durchmesser des .38erKalibers, was auf die hydraulische Sprengwirkung zurückzuführen ist. Der Kanal selbst ist beim Einschuss eingeblutet, er verläuft sich jedoch nach innen. Der
Kanal ist mit zerrissenem Hirngewebe ausgefüllt, seine Randgebiete sind eingeblutet.
Der Schusskanal verläuft quer durch das Stammkerngebiet. Daraus erschließt sich die Todesursache: Hirnzerreißung bei Kopfdurchschuss. Der Tod muss sofort eingetreten sein.«
Karl stoppte das Aufnahmegerät. Zu Pia gewandt:
»Ist das okay für dich?« Pia nickte.
Ernst mochte seinen Augen nicht trauen. Heinlein stand noch immer. Er ging auf ihn zu. »Alles klar mit dir?«
Heinlein nickte, kreidebleich im Gesicht.
Karl klopfte Ernst auf die Schulter. »Ich bevorzuge einen Riesling Kabinett.«
Ernst grunzte missmutig, während Heinlein um Entschuldigung bat. Er wollte kurz die Toilette aufsuchen. Ernst triumphierte. »Für mich einen Silvaner, bittschön.«
Kilian ließ ihn ziehen. Er ging zu Karl und Pia.
»Wenn sich sonst weiter nichts ergibt, wie lautet euer Urteil?«
Pia antwortete: »Es war zweifelsfrei ein aufgesetzter Schuss, was für einen Suizid spricht. Die Überlebenszeit war kurz, eine Überlebenschance hatte er nicht, und ich kann keinen Hinweis auf das Einwirken fremder Hand erkennen. Abwehrverletzungen an Händen und Unterarmen waren keine vorhanden. Die Schmauchspuren an der Hand zeigen, dass er die Waffe selbst geführt hat. Das Vollmantelgeschoss war zudem geeignet, diese Verletzungen zu bewirken, also auch hier kein Widerspruch. Ein klassischer Fall von Suizid mit einer Faustfeuerwaffe.«
Die einzige Frage, die noch offen blieb, war: Wo hatte Sandner die Waffe her? Sich eine .38er zu besorgen war kein leichtes Unterfangen, schließlich waren sie hier in Würzburg, wo nicht an jeder Straßenecke Schusswaffen feilgeboten wurden. Dazu musste man
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