Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
die Pianistin, Rainer, der zweite Kapellmeister und Dirigent, und Marianne, seine Regieassistentin. Franziska, die Souffleuse, war in ihren engen Kasten zurückgestiegen.
Raimondi gab das Zeichen. »Licht aus und bitte sehr.«
Das helle Bühnenlicht erlosch. Lediglich die Kerzen flackerten aufgeregt die Treppe hoch zu Donna Annas Schlafgemach.
Sues Klavier schlich sich an wie eine Katze in der Nacht. Leporello trat aus dem Dunkel der Treppe. Er wirkte unbeholfen, wusste mit der Situation nichts Rechtes anzufangen.
Sein Part sah vor, dass er der Dienerschaft gegenüber
Don Giovanni
überdrüssig war. Sein mächtiger Bariton setzte an. Jede einzelne Silbe betonte er, als stolperte er durch unwegbares Gelände.
»Notte e giorno faticar, per chi nulla sa gradir …«
2
Die Stimme überzeugte, doch sein Spiel war lausig. Leporello steigerte sich in den offenen Widerstand zu seinem Herrn, die Musik wurde schneller, fordernder.
»Voglio far il gentiluomo, e non voglio più servir …«
3
»Aus!«, schallte es aus dem Orchestergraben auf die Bühne. Das Klavierspiel endete abrupt. Vladimir, der
Don Giovanni
, Kayleen, die Donna Anna, und Michail, der Komtur, traten hinter dem Bühnenbild hervor. Roman, der Leporello, blieb auf der Bühne stehen; den Blick zu Boden gerichtet, wirkte er, als habe man ihn beim Stehlen ertappt.
Raimondi schwang sich auf die Bühne, mit wenigen Schritten stand er neben Leporello. Der stämmige Pole überragte ihn um einen Kopf.
»Was sollte denn das sein?«, fragte Raimondi.
Seine Stimme klang hinterhältig. Er suchte Augenkontakt.
Leporello schwieg, blickte verstohlen zur Seite.
»Ich habe dich was gefragt!«, wiederholte Raimondi.
»Sollte das wirklich der Auftritt eines Leporello sein, der rebelliert? Einer, der die Schnauze voll hat von seinem undankbaren Dienst bei seinem selbstverliebten Herrn? Tag und Nacht sich abrackern, ohne einen Verdienst dafür zu erhalten? Und dann das Voglio far il gentiluomo … Du hast die Schnauze voll, willst selbst der Herr sein. Du bist drauf und dran, alles hinzuschmeißen. Dein Herr soll sehen, wie er ohne dich zurechtkommt. Das muss rüberkommen. Verstehst du das?«
Ein schüchternes »Ja«.
»Gut, dann alles auf Anfang.«
Raimondi begab sich zurück in den Orchestergraben, setzte sich auf einen Stuhl. Zu seiner Rechten die Assistentin Marianne.
»Der wird es nie kapieren«, flüsterte sie ihm zu.
»Das werden wir noch sehen«, antwortete Raimondi kühl. Zur Bühne: »Sind wir so weit? Dann … bitte!«
Sue griff erneut in die Tasten. Ihr Spiel gab die Grundstimmung der Szene wieder – sie war dunkel, geheimnisvoll, ein Crescendo der sich anbahnenden Ereignisse. Rainer begleitete sie stumm, mit den Händen dirigierend, den Takt vorgebend. Ihm tat es Franziska, die Souffleuse, gleich. Auch ihre Hand schwang im Takt, so wie sie jedes einzelne Wort der Arie leise vor sich hin sprach, um sofort auszuhelfen, wenn der Solist seinen Text vergessen sollte. Die Sänger hatten von jeder Position auf der Bühne aus die Möglichkeit, sie zu sehen.
Leporello trat hervor, unbeholfen, sein Spiel ließ jede Leichtigkeit vermissen, die er für diese Arie benötigte. Noch bevor der erste Ton gesungen war, brach Raimondi ab.
»Aus!«
Er nahm den Leporello an die Hand und führte ihn in die Mitte der Bühne, dorthin, wo es am hellsten war. »Alle einmal herhören«, rief Raimondi, in die Runde blickend.
»Kann mir jemand sagen, was an dem Leporello nicht stimmt?«
»Dass er ’n Polacke ist«, kam es von hinter den Kulissen. Dort hielten sich die Bühnentechniker auf.
»Das ist nicht die Zeit für dumme Witze!«, kanzelte Raimondi sie scharf ab. »Kann jemand unserem Kollegen aushelfen, damit er die Figur zum Leben erwecken kann?«
Schweigen.
»Wie steht es mit dir, Marianne?«, fragte Raimondi in den Orchestergraben. »Da du ja weißt, dass es so nicht funktioniert, kannst du dann Roman erklären, wie er es besser machen kann?«
Schweigen. Die Angesprochene fühlte sich bloßgestellt, sie errötete.
»Ich warte … wir alle warten. Hilf uns, damit die Premiere hält, was wir unseren Zuschauern versprechen. Sie bezahlen gutes Geld und haben das Recht auf eine gute Inszenierung.«
Marianne sah sich an die Wand gedrängt, die Augen ihrer Kollegen ruhten auf ihr. Sie war sich unsicher, ob sie antworten oder verschwinden sollte.
»Marianne, wir warten!«
»Verdammt«, schoss es aus ihr heraus, »er soll einfach das spielen, was in seinem
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