Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
nach Frankfurt auf die Zeil fahren oder nach Osten, in die Tschechei nach Eger. Dort konnte man für ein paar hundert Euro eine Waffe mit Munition bekommen.
Das ließ die Vermutung zu, dass sich Sandner die Waffe bereits vor seinem Engagement am Mainfrankentheater besorgt hatte. Dann wäre er bereits seit längerem mit dem Gedanken schwanger gegangen, sich zu töten – oder sich zu schützen. Doch wovor? Es war nichts darüber bekannt geworden, dass er sich bedroht fühlte. Zum anderen gab es auch keinen Ansatz, der auf Suizidgefährdung hätte schließen lassen. In beiden Fällen musste Kayleen McGregor, die Lebensgefährtin Sandners, nochmals befragt werden. Wenn es Anzeichen für eine Bedrohung oder für einen Suizid gegeben hatte, musste sie etwas darüber wissen.
Was noch fehlte, waren die Ergebnisse, die von den Kriminaltechnikern geliefert werden sollten. Die übliche Individualnummer der Waffe war am Lauf ersichtlich; jemand hatte sich jedoch an ihr zu schaffen gemacht, damit ihre Geschichte im Dunkeln blieb.
Mit Säure oder der Röntgendiagnostik würden die Kriminaltechniker versuchen, die Nummer zu rekonstruieren. Ob es ihnen gelingen würde, war zu dieser Zeit noch ungewiss.
All diese Fragen betrafen ihn nicht, sagte sich Kilian. Die Sisyphusarbeit bei der Ermittlung der Herkunft der Waffe würde von den dafür spezialisierten Kollegen erledigt werden. Es gab für Kilian bei diesem Fall nun nichts mehr zu tun. Heinlein musste ihn demnach aus dem Versprechen, ihn bei der Aufklärung des Falles zu unterstützen, entlassen.
Seiner Rückreise in die sonnigen Marken stand also nichts mehr im Weg.
Doch zuvor wartete Pia auf ihn. Sie bat ihn auf einer Bank gegenüber des Sekretariats Platz zu nehmen, solange sie nach der Obduktion duschte.
Es dauert nicht lange, bis sie sich mit nassem Haar zu Kilian setzte.
»Also, was gibt’s so Dringendes?«, fragte er etwas ungehalten. Er hasste es, in dunklen Gängen zu warten, und erst recht in diesem Institut, wo es überall nach Desinfektionsmitteln und Tod roch. Eine Leichenhalle hätte nicht romantischer für ein Gespräch sein können als dieser Ort, wo toten Menschen das letzte Geheimnis geraubt wurde.
Kilian war viel mehr nach Sonne und Meer, wo er das Leben und die Lust in vollen Zügen genießen konnte.
»Tut mir Leid, dass ich gestern Vormittag so kratzbürstig zu dir gewesen bin«, begann Pia.
»Das heißt, du bist heute besser gelaunt?«
Kilian blickte zur Seite, sah Menschen in weißen Kitteln, die wie auf einem Güterbahnhof mit Bahren rangierten. Es durchfuhr ihn ein kalter Schauer. Dies war ein Platz, an dem der Tod regierte, nicht das Leben.
»Ich hatte nachmittags noch einen Termin«, fuhr Pia fort, ohne die Abscheu Kilians für das Gerichtsmedizinische Institut wahrzunehmen, »und ich wusste nicht, was mit mir los war.«
Kilian wich zurück. Nicht wegen Pias Erklärung, sondern weil soeben Ernst mit einem Schinkenbrötchen zwischen den Zähnen vorbeikam und sich die Hände mit einer Desinfektionslösung einrieb. »Und jetzt weißt du es?«
Wie konnte man nur essen, wenn man Minuten zuvor mit diesen Händen noch im Gedärm eines anderen herumgewühlt hatte, fragte er sich.
»Ich habe gleich Bescheid bekommen«, fuhr Pia fort. Ein Leuchten lag in ihren Augen, Kilians folgten angewidert Ernst.
»Dann erzähl«, sagte Kilian ahnungslos.
Eine Sekretärin kam Pia zuvor: »Die Kollegen von der Polizeiinspektion Land haben angerufen.«
»Kann warten!«, beschied Pia barsch.
»Nein, kann es leider nicht. Sie haben ’nen Toten auf der B 19. Fahrerflucht. Schaut übel aus, Teile von ihm sind verstreut. Bevor sie die Unfallstelle für den Ver-
kehr wieder freigeben, muss unbedingt einer von euch vorbei.«
»Sag’s Karl.«
»Der ist doch schon weg.«
Pia erhob sich. »Verdammt. Kann man nicht mal für eine Minute seine Ruhe haben?!«
»Los, mach schon, die Streife wartet unten.«
Pia beugte sich zu Kilian herab, gab ihm einen Kuss.
»Wir sprechen später. Okay?«
»Kein Problem«, antwortete Kilian.
Ihm stand der Sinn nicht nach Tod. Er dachte die ganze Zeit ans Meer, und in ein paar Stunden würde er wieder dort sein.
Das brauchte Pia aber nicht zu wissen. Er würde sie von dort aus anrufen und sich entschuldigen.
*
Im Großen Saal des Mainfrankentheaters schritt Raimondi zur ersten Probenarbeit mit seinem neuen Ensemble. Er hatte wie sein Vorgänger Sandner auf einem Stuhl im Orchestergraben Platz genommen. Neben ihm saßen Sue,
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