Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
können.
Alle waren in die üblichen, grün verwaschenen Sektionskittel gekleidet; ein Mundschutz oder Menthol unter der Nase hätte den Anfänger enttarnt. Was Heinlein anging, so konnte er sich nicht mehr an den Tisch, der seitlich zwischen Eingang und Obduktionstisch stand, zurückziehen. Als zweiter Mann hinter seinem ehemaligen Chef Kilian war das noch akzeptiert worden, doch jetzt als Dezernatsleiter musste er die Öffnung des Leichnams an Pias Seite verfolgen.
Ernst, der Sektionsgehilfe, kaute auf seinem Zahnstocher. Er grinste breit bei der Überlegung, wie lange es Heinlein bei der Obduktion wohl aushielte, bis er umkippte. Ernst würde sich alle Mühe geben, dass er seine Wette gewann. Karl hielt dagegen. Er ließ es sich eine Kiste Wein kosten, wenn Heinlein bis zum Schluss auf den Beinen stehen würde.
Kilian hatte mit solcherlei Späßen nichts mehr im Sinn. Gelangweilt saß er am Tisch und kritzelte Mandalas auf einen Zettel.
Pia, die zweite Obduzentin, übernahm die Untersuchung, Karl, der leitende Obduzent, sprach die Ergebnisse auf ein Band, das im Anschluss abgetippt und Heinlein mitgegeben werden sollte. Ernst ging den beiden zur Hand. Er begann die Hände von den Plastiktüten zu befreien und die Schmauchspuren am rechten Daumen und Zeigefinger mit einem Stift abzukratzen. Der Stift ähnelte einem Lippenstift, der, von der Kappe befreit, die schwarzgrauen, feinen Körner aufnahm. Ernst verschloss den Stift mit der Kappe und drückte ihn Heinlein in die Hand. Der Erkennungsdienst würde diese Untersuchung später zum Abschluss bringen.
Nachdem Pia die sicheren Anzeichen des Todes, Totenstarre und Totenflecke, an der Leiche nochmals überprüft und bestätigt hatte, begann sie mit dem üblichen Procedere der Leichenöffnung. Laut Gesetz mussten alle drei Höhlen des Menschen, Kopf, Brust und Bauch, geöffnet, das Innere vermessen, begutachtet und bewertet werden.
Pia nahm das Skalpell zur Hand und setzte den ersten Schnitt. Sie begann hinter der linken Ohrmuschel, zog das scharfe Blatt durch die Kopfschwarte quer hinauf zum Haupthaarwirbel, machte eine Biegung und endete hinter der rechten Ohrmuschel. Pia trat zur Seite, den nächsten Schnitt würde Ernst übernehmen. Er lächelte breit, seine Augen fixierten Heinlein, der die erste Hürde erstaunlich gefasst genommen hatte.
»Hey, Schorsch«, sagte Ernst, »heut schon gefrühstückt?«
Heinlein nickte, ohne den Blick vom Gesicht des Leichnams zu wenden. Fred Sandner sah noch immer wie ein Mensch aus. Der Tod hatte ihn nicht entstellen können. Aber dafür gab es ja Ernst.
Er griff in die klaffende Wunde, fasste die obere Kopfschwarte mit beiden Händen und zog sie mit einem kräftigen Ruck nach vorne. Kilian blickte auf. Das Geräusch erinnerte ihn an die Zeiten, als sein Onkel noch Jäger war und er der geschossenen Beute im Stall das Fell abzog. Es klang nach einem dumpfen, trockenen Ratsch. Die Kopfschwarte wurde auf Stirnhöhe nach vorn umgeklappt, sodass das Gesicht darunter verschwand. Der mattweiße Schädelknochen tauchte auf.
Heinlein stand wie eine Eins. Er ließ sich nichts anmerken, schwieg, verfolgte mit starrem Blick das weitere Vorgehen.
Ernst riss den Rest der Kopfschwarte nach unten. Wieder dieses Geräusch. Der Schädelknochen lag nun komplett frei.
Pia trat an den Kopf heran, bückte sich, um die Einund Ausschussstellen genauer zu betrachten. Beim Einschuss streckte sie ihren kleinen Finger vor, führte ihn ans Loch und machte eine Drehung. »Trichterförmig erweiterte Knochenaussprengung nach innen.« Das gleiche Ritual wiederholte sie beim Ausschussloch. Die Trichteröffnung wies hier nach außen. Beide Trichter entsprachen ihrer Erwartung und dem klassischen Bild bei derartigen Verletzungen. Zum Schluss vermaß sie die beiden Schusslöcher und gab das Ergebnis an Karl.
»Mach weiter«, sagte sie zu Ernst.
Er griff zur Seite. Das Instrument, das er zutage förderte, glänzte silbern, war handlich in der Länge und wies am Kopf eine kreisrunde Verschalung auf, unter der eine Scheibe auf den Einsatz wartete.
Heinlein wippte auf den Schuhsohlen, was verriet, dass er doch mehr an den Vorgängen beteiligt war, als er zugeben wollte.
Ernst rollte den Zahnstocher von links nach rechts, lächelte, als er die Säge anschaltete. Der sirrende Laut, den das Gerät von sich gab, war der einer elektrischen Handsäge aus dem Baumarkt ähnlich. Er setzte die Säge auf die Stirn des Leichnams und drückte sanft zu.
Die Scheibe
Weitere Kostenlose Bücher