Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
hätte erkennen können, woher es kam. Wir waren derart verblüfft, dass wir nicht weiter nachgefragt haben. Es war, als hätten wir einen Schutzengel, der uns vor der drohenden Pleite retten wollte. Herr Raimondi sprach selbst von einem Glückstreffer, dass er verfügbar wäre, als wir ihn anriefen.«
»Wo haben Sie ihn erreicht? Ich meine, wo war er zum Zeitpunkt des Anrufs?«
»Kann ich nicht genau sagen, es handelte sich um eine Handynummer. Aber ich glaube, dass er gestern noch in Mailand war.«
Gestern Mailand und abends bereits in Würzburg,
im Weinhaus
Stachel
. Er war schnell. Kilian wollte es genau wissen. »Und wann kam er in Würzburg an?«
»Heute Morgen, denke ich.«
»Sie wissen es nicht sicher?«
»Hören Sie, ich bin keine …«
»Schon gut«, unterbrach Kilian.
Er war sich nicht sicher, ob Reichenberg ihn in Bezug auf Raimondis Ankunft belogen hatte. Zumindest wollte er ihn gestern Abend im
Stachel
nicht getroffen haben. Heinlein musste herausfinden, wer sein Gesprächspartner war. Für Kilian war dieser Fall von Anfang nicht der seine. Und jetzt stellte sich heraus, dass Sandner sich höchstwahrscheinlich selbst das Leben genommen hatte. Somit war die Sache klar und Heinlein konnte ihn endlich zum Zug bringen.
»Können wir das Fax sehen, das Sie erhalten haben?«, fragte Heinlein.
»Sicher. Es liegt bei den Akten, unten im KBB.«
»Wo?«
»Im Künstlerischen Betriebsbüro. Es ist die Schaltzentrale, das Nervenzentrum eines Theaters. Disposition und alles, was der Pförtner nicht beantworten kann, landet dort. Ich werde anrufen und das Fax raussuchen lassen. Wenn es Ihnen keine großen Probleme bereitet, möchte ich Sie bitten, es dort einzusehen. Sie finden das Büro unten im Erdgeschoss, dritte Tür nach dem Pförtner links.«
Sie bedankten sich und machten sich auf den Weg, die zwei Stockwerke zu Fuß zu nehmen.
Im Treppenhaus fragte Heinlein: »Was hältst du von ihm?«
»Schwer zu sagen. Eine Mischung aus aalglatt, rücksichtslos, aber auch hemmungslos direkt und … na ja, emotionslos.«
Die Durchsage, dass die Proben zum
Don Giovanni
weitergingen, drang über die Lautsprecher ins Treppenhaus. Über und unter ihnen kam Betriebsamkeit auf. Türen gingen, Füße trappelten, Gelächter und Geschnatter schwoll an.
Sie waren im ersten Stockwerk angekommen, als Kilian über den Handlauf hinweg nach unten ins Treppenhaus blickte. Dort erkannte er den Regisseur Francesco Raimondi und den Mann von der Frankfurter Allgemeinen, der auf ihn gewartet hatte. Raimondi streckte ihm gerade die Hand zur Verabschiedung hin. Dann schaute er kurz nach oben. Kilian sah ihm direkt in die Augen. Er schien Kilian jedoch nicht wahrzunehmen. Er löste die Hand, sprach zu seinem Gegenüber.
Keine Armlänge entfernt, schoss es an Kilian vorbei in die Tiefe. Er spürte den Wind und das Geraschel, zuckte zurück, blickte nach oben, dann nach unten, sah Raimondi am Boden liegen. Neben ihm der Zeitungsmann, mit Grünzeug, roten Scherben und Erde bedeckt. Ein Aufschrei.
Kilian zog Heinlein zum Handlauf, deutete nach unten, wies ihn an, runterzugehen. Er selbst rannte nach oben, dorthin, woher das Geschoss gekommen war. Die Tür im zweiten Stock schien nicht geöffnet worden zu sein, sie lag im Schloss. Über ihm klackte eine andere gerade an den Rahmen. Er beeilte sich. Riss sie auf, prüfte den Gang, er war leer. Keine Stimmen, keine Schritte. Doch da war ein anderes Geräusch. Er lief ihm entgegen, erreichte den Aufzug. Er kam soeben zum Stillstand. Wo, wusste er nicht.
Kilian ging zurück ins Treppenhaus, schaute die fast dreißig Meter nach unten. Heinlein hatte sich über Raimondi gebeugt. Gaffer bildeten einen Kreis um die drei. Jemand schaute nach oben, kurz nur, er konnte das Gesicht nicht sofort erkennen. Es war Vladimir, der geschasste
Don Giovanni
.
Kilian machte sich auf den Weg nach unten. Noch bevor er am Tatort angekommen war, hörte er eine Durchsage.
Die Stimme war nicht die von Jeanne, der Inspizientin. Er konnte nicht sagen, ob sie von einer Frau oder einem Mann stammte. Sie war irgendwie verzerrt, und was er hörte, war seltsam surreal.
»Ich bin der unsichtbare Herrscher einer magischen Welt …«
*
Ich habe alles unter Kontrolle.
Nichts passiert in diesem Haus, ohne dass ich davon weiß. Ich bin eine Vertrauensperson, auch wenn ich nicht danach aussehe, mein Äußeres täuscht leicht darüber hinweg. Für jedes Problem und jeden Wunsch habe ich ein offenes Ohr. Nichts ist
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