Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
mir fremder als Desinteresse an dem Geschick anderer. All die kleinen Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben. Die, die zu mir kommen, wissen das. Ohne dass sie es merken, bemächtige ich mich ihrer.
Jetzt endlich ist es so weit. Das Spiel kann beginnen. Ich werde ihnen Rätsel aufgeben, damit sie beschäftigt sind und mich bei der Umsetzung meines Planes nicht stören. Wie eine Spinne ihr Netz geduldig webt, werde ich die Schlinge immer enger um seinen Hals ziehen. Er wird nichts davon spüren. Er glaubt, alles in der Hand zu haben. Das ist gut so. Die Beute, die sich als Jäger wähnt, blickt nicht zurück über die Schulter, um sich zu vergewissern. Denn dort würde er mich sehen, wie ich die Fäden in der Hand halte und ihn leite, wohin ich ihn haben will.
Sein Stolz und seine Würde sind schuld an seinem Ende. Ich sehe es genau vor mir.
Ich werde über alle triumphieren, ihnen zeigen, wozu ich imstande bin.
Nie wieder wird irgendjemand mein Potenzial in Frage stellen.
9
Den Zeitungsmann hatte es erwischt.
Nicht die Yucca, sondern der Topf aus Terrakotta, prall mit Erde gefüllt, hatte ihm den Hinterkopf und die linke Schulter zertrümmert. Er war auf der Stelle tot. Hatte von der Gefahr, in der er sich an exponierter Stelle im Treppenhaus befand, nichts mitbekommen.
Kilian konnte nur für ihn hoffen, dass er alle Dinge, die er in seinem kurzen Leben erledigt haben wollte, bis dahin getan hatte. Er war keine vierzig Jahre alt geworden. In derartigen Momenten wurde Kilian die Bedingtheit der eigenen Existenz wieder einmal bewusst. Jede einzelne Sekunde konnte die letzte sein. Du hörst nicht den Schuss, der dich trifft, siehst nicht die Hand, die das Steuer lenkt, und spürst nicht den Wind, der dem Stein folgt.
Raimondi war dem Tod nochmal von der Sense gesprungen. Keine zehn Zentimeter näher hätte er am Zeitungsmann stehen dürfen. Ein hölzerner Trieb der Yucca hatte ihn am Arm erwischt. Nichts gebrochen, aber die Wucht des Aufpralls hatte ihm ein Hämatom von der Größe eines Eis im Unterarm zugefügt. Der vermutete Schock nach einem derartigen Ereignis schien ihm nicht viel auszumachen. Breitbeinig setzte er sich gegen den Abtransport ins Krankenhaus zur Wehr. Er hätte hier noch einen Job zu erledigen. Jede Minute sei kostbar im Hinblick auf die Premiere in zwei Wochen.
Kilian war sich nicht sicher, ob er jemals in seiner beruflichen Karriere eine Einstellung wie diese gehabt hatte, und wenn ja, ob er das gut finden sollte. Er verwarf den Gedanken. So arbeitswütig konnte nur ein Besessener sein. Und wie er noch herausfinden sollte, lag er mit seiner Vermutung gar nicht so falsch.
Nachdem die Sanitäter Raimondi einen Verband verpasst hatten, saßen er, Heinlein und Kilian im Besprechungsraum gleich neben dem Pförtnerkabuff zusammen.
»Was hatten Sie mit dem Herrn von der Zeitung … wie hieß er noch gleich …« Heinlein kramte in seinen Unterlagen, konnte den Namen aber nicht finden.
»Keil, sein Name war Keil, Vorname weiß ich nicht«, antwortete Raimondi.
»Den werden wir noch rausfinden … Was hatten Sie mit diesem Herrn Keil unten, am Fuß des Treppenhauses, zu tun?«
»Ich habe ihn verabschiedet. Sein Wagen stand in der Tiefgarage.«
»Das heißt, Sie haben zuvor ein Gespräch mit ihm geführt.«
»Richtig, ich gab ihm ein Interview.«
»Worum ging’s?«, fragte Kilian.
»Na, um den
Don Giovanni
natürlich. Deswegen bin ich engagiert worden.«
Kilian hakte nach. »Wie kam es eigentlich genau zu diesem Engagement?«
»Man hat mich angerufen, gefragt, ob ich Zeit und Lust hätte, und ich habe ja gesagt. Mein nächster Job beginnt erst in vier Wochen in Salzburg.«
»Wie kam man gerade auf Sie?«
»Ganz einfach: Ich bin der Beste für den
Don Giovanni
, den man kriegen kann.«
»Gewiss. Doch ist es nicht ein außerordentlicher Zufall, dass man Sie gerade in Ihrer freien Zeit zwischen zwei Engagements gewinnen konnte?«
»Mag sein. Ich halte nichts von Zufällen. Ich verbuche es unter Vorsehung.«
Heinlein übernahm. »Vorsehung? Haben Sie den Tod von Herrn Sandner auch vorhergesehen?«
»Blödsinn. Man kann nicht alles dem Zufall zuschieben, wenn man etwas nicht erklären kann. Dann ist mir der Begriff Vorsehung, oder nennen Sie es, wie Sie wollen, lieber.«
»Sie können sich nicht erklären, wie Ihr Name und Ihre Telefonnummer auf ein Fax kommen, das just eine Stunde nach Sandners Tod im KBB auf dem Tisch landet?«
»Nein.«
»Das heißt, Sie haben
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