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Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall

Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall

Titel: Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
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Gekritzel eines gelangweilten Musikers. Zwischen Notenzeichen auf Notenlinien erkannte er einen Strich in anderer Farbe, der sich weiter oben mit einem anderen kreuzte. Er postierte sich genau auf dem Kreuzungspunkt, lehnte sich leicht nach vorn über die Brüstung, blickte nach unten. Ja, von hier aus konnte es gelingen.
    Wenn er einen Gegenstand ungefähr auf die Länge seines Unterarms hinaushielte und ihn einfach losließe, könnte er dort aufschlagen, wo er es eine Stunde zuvor getan hatte. Ein paar Zentimeter weiter links, und es hätte Raimondi getroffen. Das war Präzisionsarbeit. Man musste eine ruhige Hand und den festen Willen zur Tat haben, damit es funktionierte. Zweifel hätten alles zerstört.
    Zweifel … Kilian fiel Raimondis Blick ein, wie er kurz vor dem Aufschlag nach oben geblickt hatte. Es war kein zufälliger Blick gewesen. Bevor ich jemanden verabschiede, gibt es keinen Grund, wegbeziehungsweise nach oben zu schauen, sagte er sich. Blickkontakt war gefragt. Wieso hatte er das getan? War es Teil eines Planes? Ein inszenierter Anschlag auf sich selbst – oder war es ein gezielter, kaltblütiger Mord an einem unliebsamen Schreiberling?
    In beiden Fällen musste Raimondi nicht nur Mut, sondern vollstes Vertrauen in seinen Gehilfen haben. Wer könnte dieser Gehilfe sein, wenn Raimondi erst tags zuvor in Würzburg angekommen war? War es sein Rendezvous im Weinhaus
Stachel
, zu dem er die Aussage verweigerte? Oder war der Attentäter dieser Vladimir, der Reichenberg Konsequenzen für seinen Rauswurf angedroht hatte? Er würde ihn damit konfrontieren.
    Kilian ging nochmals in die Hocke, prüfte das Kreuz, das er als mögliche Markierung für einen Mordanschlag ausgemacht hatte. Es fiel ihm schwer, die beiden Linien zweifelsfrei als Fadenkreuz zu bestimmen. Es konnte genauso gut eine gedankenlose Schmiererei sein.
    Hier kam er nicht weiter. Er musste den Weg des Attentäters nachvollziehen, um seine Vermutung zu erhärten. Der Täter hatte eine Stahltür, die das dritte Stockwerk mit dem Treppenhaus verband, zu überwinden. In der Hand eine Topfpflanze, die etwa fünf Kilo gewogen hatte. Würde jemand mit einer Pflanze in der Hand auffallen? Wahrscheinlich nicht. Es könnte vom Geschenk bis zum Umzug alles sein. Dennoch blieb die Frage, woher die Pflanze kam. Wurde sie eigens für den Anschlag ins dritte Stockwerk gebracht, oder stammte sie aus einem der Büros dort oben?
    Kilian ging in den Gang, er war menschenleer. Er betätigte eine Klinke nach der anderen. Alle bisherigen Türen waren verschlossen. Diese hier, gleich gegenüber dem Aufzug, ließ sich öffnen. Auf dem Namensschild am Türrahmen las er Alonso Serrano, Ballettdirektor. Er trat ein.
    Der Raum hatte die gleichen Ausmaße und die gleiche Ausstattung wie Sandners Büro. Vier mal vier Meter, ein Schrank, Schreibtisch, Computer, ein Regal für persönliche Dinge. Kilian erkannte verschiedene Farbbilder, die einen gut gebauten Mann in eng anliegenden langen Unterhosen zeigten. Auf zweien schien
    er wie ein römischer Merkur in der Luft zu stehen, auf einem anderen jonglierte er eine Ballerina über dem Kopf. Neben dem Regal, am Fuße des Schreibtisches, stand eine Terrakottaschale. Sie war feucht, und allem Anschein nach fehlte ihr der Topf.
    Die Tür ging auf. Der Mann auf den Fotos, um Jahre älter, kam herein.
    Er schien verständlicherweise über Kilians Anwesenheit nicht erfreut. »Was suchen Sie hier?«
    »Entschuldigen Sie, dass ich unangemeldet hereingeplatzt bin, aber Ihr Büro war als einziges auf dem Gang nicht abgeschlossen.«
    »Ich weiß«, sagte er, »bitte erzählen Sie es nicht weiter. Ich vergesse es immer wieder, obwohl wir von der Intendanz angewiesen wurden, die Büros geschlossen zu halten. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.«
    »Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«
    »Diebstahl. Hin und wieder kommt etwas weg, und dann gehen die Anschuldigungen los. Glauben Sie mir, wenn Künstlern ihr Maskottchen oder ihr Glücksbringer abhanden kommt, ist der Teufel los. Aber, wer sind Sie eigentlich?«
    »Meine Name ist Kilian, Kommissar Kilian. Ich bearbeite den Todesfall …«
    »Von Freddie«, fiel er ihm ins Wort.
    »Ja, auch. Doch mehr beschäftigt mich der Unglücksfall, der sich vorhin im Treppenhaus ereignet hat.«
    Er stutzte. »Was meinen Sie?«
    »Haben Sie denn nicht mitbekommen, dass jemand im Treppenhaus getötet wurde?«
    Er wurde blass, setzte sich. Seine Reaktion wirkte ehrlich. »Nein. Ich komme

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