Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
ist zu einer Berufung geworden.«
»Bei Gelegenheit erzählen Sie mir doch bitte mehr davon. Auch von Ihrer konkreten Arbeit als Souffleuse.«
»Interessieren Sie sich ernsthaft dafür, oder fragen Sie nur aus Höflichkeit?«
»Nein, ich möchte wirklich mehr von Ihnen erfahren. Als Außenstehender habe ich überhaupt keine Vorstellung, was die Leute am Theater so tun.«
Sie freute sich, schenkte ihm ein Lächeln und nickte, bevor sie vom Bühneneingang aus in ihre unterirdische Höhle hinabstieg.
Kilian setzte sich wie gewohnt in eine der mittleren Reihen des Zuschauerraums, machte es sich bequem und war gespannt, welche Überraschung Raimondi an diesem Nachmittag parat hatte. Er musste nicht lange warten.
Das Licht über ihm ging aus, das Arbeitslicht auf der Bühne an. Er sah, dass alle auf ihren Plätzen waren. Auf der Bühne standen der asiatische
Don Giovanni
und Roman, der Leporello, und warteten auf Anweisungen.
Raimondi beugte sich über seinen Klavierauszug, blätterte darin. »Wir proben Szene fünf, erster Akt. Auftritt Donna Elvira. Dazu dann
Don Giovanni
und Leporello.«
Raimondi blickte hoch zur Bühne, dann zu beiden Seiten. »Ich sagte, Auftritt Donna Elvira. Wo steckt sie?«
Die Frage war an die Regieassistentin Marianne gerichtet. Es gehörte zu ihren Aufgaben, die Anwesenheit der Solisten bei den Proben sicherzustellen. Marianne ging die Dispositionsliste durch, auf der sich die in Frage kommenden Solisten befinden sollten. Das hektische Rascheln der Blätter zeigte ihre Anspannung.
Raimondi wurde ungeduldig. »Zum letzten Mal, wo ist die Donna Elvira?«
Marianne, noch immer im Wust der Blätter verloren, stammelte: »Ich weiß es nicht … Sie ist disponiert.«
»Und wo ist sie dann?«
Aus einer der Reihen vor Kilian kam die Antwort.
»Ich habe sie in der Pause getroffen. Sie sagte, dass sie für den Liebestrank im Plan stünde und nicht für den
Don Giovanni
.«
Raimondi wollte seinen Ohren nicht glauben. »Wie bitte?!«
Marianne suchte ihr Heil in Ausflüchten. »Dann hat das KBB einen Fehler gemacht, nicht ich. Ich habe sie für heute eingetragen. Sicher.«
»Aber sie ist nicht da«, hielt Raimondi ihr vor. »Los, geh sie holen, in der Zwischenzeit proben wir mit der Zweitbesetzung. Wo ist die?«
Raimondi drehte sich zum Zuschauerraum um, wartete darauf, dass sich jemand erhob. Doch es blieb ruhig. »Wo ist die zweite Elvira, verdammt!«
Marianne, bereits auf dem Weg in den anderen Probenraum, machte Halt. »Ich glaube, die hat Urlaub.«
Raimondis Hand klatschte laut auf die Tischplatte.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Ich kann nichts dafür«, sagte Marianne kleinlaut.
»Du bist raus«, entgegnete Raimondi kühl, »und die Donna Elviras können auch gleich bleiben, wo sie sind. Wir finden Ersatz.«
»Das können Sie nicht tun«, widersprach Marianne, »ich habe einen Vertrag …«
»… hatte einen Vertrag, und jetzt runter von meiner Bühne.«
Raimondi schenkte ihr keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Sie zögerte, ob sie abermals Widerspruch erheben sollte, brach dann ab und verließ weinend die Bühne.
Sue, die Klavierspielerin, kämpfte mit sich. Sollte sie protestieren, gemeinsam mit ihrer Freundin die Probe verlassen? Sie kapitulierte, wusste sie doch, dass es auch sie den Job kosten würde, wenn sie jetzt aufstünde.
Raimondi blätterte weiter im Klavierauszug. Er zeigte sich abgeklärt, ruhig, ließ sich von seinem Weg nicht abbringen.
Aus seinem Augenwinkel sah er Sue. Ohne sie anzusehen, sagte er: »Alles klar, Sue?«
Mit Tränen in den Augen nickte sie.
»Gut, dann gehen wir zum nächsten Auftritt. Roman, hast du deine Registerarie parat?«
Roman bejahte.
»Dann hat der
Don Giovanni
Pause. Wir machen weiter mit Leporello und Madamina.«
Raimondi nahm eine Requisite zur Hand, das Buch mit den zweitausendfünfundsiebzig Frauen, die
Don Giovanni
bisher verführt hatte und aus dem Leporello nun in seiner Arie zitieren sollte. Er reichte es ihm, nahm ihn am Arm und positionierte ihn auf der Bühne. Dann schaute er in die Zuschauerreihen. Außer Kilian war niemand mehr da. Vorsorglich hatte sich jeder verzogen, der nicht unbedingt für die Szene gebraucht wurde, um möglichem Unheil zu entgehen.
Raimondi bückte sich, blickte in den Souffleurkasten, der schienbeinhoch wie eine aufgesetzte schwarze Muschel am vorderen Bühnenrand aufragte.
»Franziska«, sprach er hinein, »bist du noch da?« Sie bestätigte.
»Komm bitte hoch und nimm die Rolle der
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