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Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall

Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall

Titel: Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
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Donna Elvira ein, damit der Leporello jemanden zum Ansingen hat.«
    Franziska nahm die kleine Treppe hinauf zur Bühne und gesellte sich neben Leporello. Raimondi dirigierte sie jedoch ein paar Meter weiter an die Nullgasse, wo sie Position beziehen sollte.
    Dann wandte er sich an Leporello. »Du weißt, was deine Aufgabe bei dieser Arie ist?«
    »Sie gut zu singen«, antwortete Roman beflissen. Raimondi lächelte. »Ja, das auch. Ich meine, was soll mit der Arie beim Zuschauer ankommen?«
    Roman stutzte, dachte nach, suchte Hilfe bei Franziska. Sie lächelte zurück.
    »Dass der
Don Giovanni
sehr viele Frauen verführt hat«, sagte er unbeholfen.
    »Auch das stimmt. Doch viel mehr erzählt diese Arie über den Leporello. Was für ein Mensch er ist. Was er von den Verführungskünsten seines Herrn hält und dass er auch gerne ein gentiluomo, ein Edelmann, wäre, der die Frauen reihenweise zum Narren hält.«
    Roman tat sich mit dieser Interpretation schwer. Er kratzte sich am Kopf, wollte nachfragen, ließ es dann aber.
    Raimondi nahm ihm das Buch aus der Hand und Leporellos Position ein. »Du musst die Arie verstehen, sonst funktioniert sie nicht. Schau her.«
    Er sprach von einer Folge von Takten und der anfänglichen Geisteshaltung eines beflissenen Buchhalters, einer Aufzählung von mehreren hundert Frauen, die der Verführer in Italien, Frankreich, Deutschland und der Türkei erobert hatte. Höhepunkt war das letzte Land, Spanien, in dem der Don tausendunddrei Herzen gebrochen hatte. In den Takten achtundzwanzig bis siebenunddreißig wechsele die bloße Aufzählung in eine aufrechte Bewunderung für den schamlosen Edelmann. Dieses Thema würde später wiederholt und in seiner Eindringlichkeit gesteigert.
    »Wenn du diese Haltung einnimmst, dann erfahren wir mehr von dir, von deiner Zerrissenheit zwischen leibeigener Dienerschaft und idealisiertem Erfolgsstreben.
    Dabei ist der
Don Giovanni
nicht wählerisch. Er nimmt alle, ob blond, ob braun, schön und hässlich, Bäuerin und Baronesse, vor allem aber die jungen, die Anfängerinnen. Weißt du, was damit gemeint ist?«
    Roman zuckte mit den Schultern.
    »Kinder!«, rief Raimondi ihm zu. »La piccina, die Kleinen. Der
Don Giovanni
ist auch ein Kinderficker.« Roman erschrak, wollte nicht glauben, was er hörte.
    »Halb so wild«, tat Raimondi ab, »Kinder ficken war im achtzehnten Jahrhundert keine seltene Sache … und auch deshalb ist der
Don Giovanni
wieder so aktuell. Aber lassen wir das.
    Worum es hier geht, ist, dass du beginnst, deinem Herrn nachzueifern. Zwar nur im Wunsch, aber dennoch klar und deutlich. Genau so, wie du damit der Donna Elvira den Todesstoß verpasst. Je mehr du die Erfolge des Don feierst, desto kleiner, mickriger und austauschbarer wird sie. Sie ist eine unter Tausenden. Und damit tötest du alles in ihr, ihre Selbstachtung, ihr Gefühl, etwas Besonderes zu sein … und gibst ihr damit die Motivation, den
Don Giovanni
zu bekämpfen.
    Es ist aber keine Rache, das ist die Triebfeder der Donna Anna. Bei Elvira ist es verletzte Eitelkeit. Erst als die Zerlina aus dem Rennen ist, ganz zum Schluss, wirft sie sich dem Don wieder an den Hals, will ihm alles verzeihen und bekehren, weil sie ihn noch immer liebt. Sie gehört zu dem Schlag Frauen, den man prügeln und küssen kann.«
    Kilian konnte nicht erkennen, wie viel der polnische Leporello von alldem verstand, sprachlich wie inhaltlich. Es war verschwindend wenig, seinem ahnungslosen Gesichtsausdruck nach zu schließen. Franziska hingegen zeigte sich seltsam berührt, offenbar schwankte sie zwischen Abscheu und Akzeptanz der künstlerischen Interpretation.
    Kilian war über Raimondis Ausführungen der Mund trocken geworden. Er griff in die Tasche nach einem Pfefferminzbonbon und fand einen Zettel. Darauf stand: Intendant Semperoper wegen Raimondi anrufen. Er erinnerte sich. Die Garibaldi hatte von einem Vorfall aus dem Jahr 1994 gesprochen, der für die Aufklärung des Anschlages auf Raimondi nützlich sein sollte. Kilian ergriff die Gelegenheit und schlich sich zur Tür hinaus.
    Im Foyer war niemand zu sehen. Der Rest des Ensembles hatte es sich wahrscheinlich in der Kantine bequem gemacht. Er rief die Auskunft an und ließ sich mit der Semperoper in Dresden verbinden. Der Pförtner stellte ihn zum Intendanten durch. Er erzählte Kilian, dass er erst seit vier Jahren am Hause sei. Jener Vorfall jedoch, von dem er gerüchteweise gehört hatte, habe sich unter seinem Vorgänger ereignet. Er

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