Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
als der alte. Und genau da liegt das Problem aus meiner Sicht. Der
Don Giovanni
ist mit seiner Höllenfahrt verschwunden. Er ist zwar seinen Prinzipien bis in den Tod getreu geblieben, anders als in der Urfassung des Don Juan von Tirso de Molina, wo er seine Taten bereut, aber dennoch sterben muss, weil er zu spät einsichtig wird.«
»In beiden Fällen stirbt
Don Giovanni
also. Soll er aus Ihrer Sicht denn weiterleben?«
»Irgendetwas muss mit ihm noch geschehen, wenn er sich auf die Höllenfahrt macht. Was es genau sein wird, weiß ich noch nicht. Mit den Entscheidungen der anderen Figuren bin ich auch unzufrieden. Das passt nicht mehr in die heutige Zeit, dass man ins Kloster geht, wenn man den Geliebten verloren hat.«
»Besteht denn eine Notwendigkeit, den
Don Giovanni
ins Heute zu versetzen und damit den Urstoff zu verfremden?«
»Ich denke schon. Nicht nur, weil der Stoff auch heute noch interessant ist, sondern weil wir, sprich alle, die am Theater beschäftigt sind, neue Wege finden müssen, um die Zuschauer von unserer Arbeit zu überzeugen. Wir konkurrieren mittlerweile nicht nur mit dem Fernsehen und dem Kino, sondern mit allen Formen von Freizeitangeboten wie Sportevents, Internet und Urlaubsreisen.
Früher gab es das in dieser Fülle nicht, sodass wir heute um jeden einzelnen Zuschauer buhlen müssen, um zu überleben.«
»Kann das Theater das denn überhaupt schaffen? Ich meine, wie wollen Sie mit einer Hollywoodproduktion konkurrieren?«
»Unser großer Vorteil ist die Unmittelbarkeit. Das heißt, wenn Sie den Tod direkt vor sich auf der Bühne erleben, keine zehn Meter von Ihnen entfernt, dann hat das eine andere Qualität als auf einer Leinwand.«
»Aber auch auf der Bühne ist es nur Kunstblut.«
»Das stimmt, aber die Illusion, in die Sie über zwei Stunden im Zuschauerraum eingebunden sind, ist weitaus stärker. In einem guten Theater, versteht sich. Das ist unser Job: Eine Illusion aufzubauen, die körperlich, geistig und emotional überzeugt, mehr noch, die Sie mitreißt, in der Sie aufgehen. Theater ist Essenz, und diese Essenz sollte in Ihren Adern fließen, zumindest solange Sie im Theater sind, wenn nicht länger. Pures Adrenalin oder, wie es Tucholsky ausdrückt, ›Gänsehaut‹.«
Kilian hielt inne, musste verdauen, was sie ihm soeben gesagt hatte. Sie sprach von Unmittelbarkeit, Illusion und Essenz. Worte, die ihn an einen Puristen erinnerten, der keine Kompromisse zulässt. Dieses zarte Wesen mit dem roten Schopf, Ende zwanzig, unauffällig in einem Kasten unter der Bühne, schien ein sehr klares Bild ihrer Profession zu haben und ganz in dem aufzugehen, was sie tat. Er war gespannt, ob diese Auffassung auch von ihren Kollegen vor, hinter und auf der Bühne geteilt wurde.
»Sehen das Ihre Kollegen genauso?«, fragte er in Erinnerung an die direkte Art Reichenbergs, des Intendanten, und auch an Sandner, der von der Regieassistentin als unfähig beschrieben worden war.
»Meinen Sie jemand Bestimmtes?«
»Wie sahen Sie zum Beispiel Sandner?«
Sie antwortete schnell, ohne einen Gedanken zu verschwenden. »Er hat es gut gemeint, doch es mangelte ihm an Führungsqualitäten.«
»Wie sie ein Regisseur haben sollte?«
»Ja, denn er ist für den Erfolg der Produktion verantwortlich, und die endet nicht nach der Premiere, sondern im Einspielergebnis der folgenden Wochen und Monate. Darüber hinaus sollte jeder Regisseur ein Zeichen setzen, in der Art: Seht her, hier zeige ich euch etwas, was ihr so noch nicht gesehen habt. Also, er erschafft etwas Neues, von dem nicht nur die Zuschauer profitieren, sondern das ganze Haus mit allen Beteiligten.«
»Hat Raimondi diese Qualität?«
Sie zeigte sich verblüfft, als ob er ein Naturgesetz anzweifeln wollte. »Raimondi ist der Regisseur für den
Don Giovanni
, so wie er die Inkarnation des
Don Giovanni
war und ist. Er wird uns, dem Theater, eine Aufführung bieten, die ihresgleichen sucht. Er wird ein Zeichen setzen, wie Musiktheater heute gespielt werden soll.«
»Sie sind also von ihm überzeugt. Keine Zweifel?«
»Nicht den geringsten.«
Kilian blickte auf, Raimondi überquerte die Straße, zeigte ihnen an, dass die Probe fortgesetzt werden konnte. Sie antworteten mit einem Nicken. Franziska packte ihre Sachen. Zusammen machten sie sich auf den Weg.
Kilian fragte sie: »Gehört es eigentlich zur Aufgabe einer Souffleuse, an einer Fortsetzung des
Don Giovanni
zu arbeiten, oder ist es eher ein Hobby?«
»Letzteres, wobei … es
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