Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
unten. Bis zum vorletzten Stockwerk im Treppenhaus kam ihm niemand entgegen. Er war nun im Erdgeschoss, konnte durch die Fenster nach draußen blicken.
An einer Seite ging eine Tür weg. Er öffnete sie und stand unversehens im Unteren Foyer des Mainfrankentheaters. Die Kasse und die kleine Absperrung lagen gegenüber. Wenn es so einfach war, in das Innere des Theaters zu gelangen und es wieder zu verlassen, brauchte er sich keine weiteren Gedanken mehr über unbefugtes Betreten zu machen. Hier konnte jeder unerkannt ein und aus gehen, wie es ihm beliebte.
Er schloss die Tür und ging die Treppen weiter ganz nach unten. Er war gespannt, wo er herauskommen würde und welche Überraschungen dort auf ihn warteten.
Nachdem er die erste Tür geöffnet, den unbeseelten, kahlen Gang betreten und einige Meter gegangen war, merkte er, dass sich sein Orientierungssinn verabschiedete. Je weiter er in das Labyrinth der Gänge vordrang, desto mehr war er verloren. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Alles sah gleich aus. Die Wände, die Türen, das fade Licht. Langsam wurde ihm mulmig. Erschöpft drückte er eine der Türklinken und trat das ins hell erleuchtete Requisitenlager.
Er schaute sich um. Niemand war zu sehen. Er rief, niemand antwortete. Irgendwie musste er hier doch herauskommen. Vorbei an Gitterboxen, hinter denen Schwäne aus Pappmache, alte Jugendstil-Sessel, Lampen jeder Art und Stühle jeder Form aufbewahrt wurden, hielt er auf eine weitere Tür zu. Es war der Aufzug. Er drückte die Taste und holte ihn. Der Aufzug setzte sich rüttelnd in Bewegung, hielt aber bereits nach einem Stockwerk wieder an. Zwei Handwerker stiegen hinzu. Es waren die Servicetechniker, die Jeanne beauftragt hatte. Er packte die Gelegenheit beim Schopf und gab sich als Mitarbeiter der Theaterleitung aus. Sie berichteten, dass die Suchaktion erfolglos geblieben war. Nirgendwo hatten sie einen Defekt oder eine manipulierte Leitung aufspüren können.
Im Erdgeschoss angekommen, machte er sich auf den Weg zurück in den Großen Saal. Er war gespannt, wen sich Raimondi diesmal vornehmen würde.
Doch das Gegenteil war der Fall.
15
Süß begann die Szene, bitter würde sie enden. Raimondi gab das Probenstück vor. »Erster Akt, Szene zwanzig, erstes Finale. Riposate …«
Kilian machte es sich in der ersten Reihe bequem, nahm einen Klavierauszug zur Hand und blätterte die entsprechende Szene auf. Wie er las und wie er es auf der Bühne verfolgen konnte, würde das gesamte Ensemble an der Szene teilnehmen.
Das kam ihm nicht ungelegen. In Ruhe würde er die einzelnen Darsteller und ihr Verhältnis zu Raimondi beobachten können. Gespannt war er auf Steven Vanderbuilt, nachdem er seine Version der Vorkommnisse an der Semperoper erfahren hatte. Ebenso, wie Kayleen die Donna Anna spielen und wie Raimondi es bewerten würde. Aminta und Ferdinand standen abseits am Bühnenrand, tauschten Vorschläge über Variationen ihres Spiels aus.
Roman, der polnische Leporello, war wie üblich allein dort oben. Er schien wenig Kontakt mit den anderen zu haben. Ähnlich verhielt es sich mit dem japanischen
Don Giovanni
, dessen Namen Kilian noch nicht kannte. Und dann war da noch ein neues Gesicht. Eine Frau, Ende dreißig, schwarzes langes Haar, leichte Bräune, vom Typ her Südländerin.
Raimondi nahm behände die zwei Stufen hinauf zur Bühne.
»Bevor wir anfangen, will ich euch noch zwei neue Kollegen vorstellen«, sagte er und winkte die beiden herbei. Er wandte sich zuerst der Frau zu. »Debbie Reynolds, die neue Donna Elvira. Wir haben schon mehrmals zusammengearbeitet. Sie beherrscht ihre Rolle aus dem Effeff. Ich denke, sie wird unser Projekt bereichern, und es wird keine Schwierigkeiten mit ihr geben. Ein echter Profi eben.«
Debbie verneigte sich kurz, »Und hier«, Raimondi schob sanft den Japaner einen Schritt nach vorn, »Takahashi Kimura. Einige von Ihnen werden ihn schon aus dem Chor kennen. Er wird den Part des
Don Giovanni
übernehmen. Es ist zwar seine erste Rolle, aber ich bin mir sicher, dass er sie meisterhaft ausfüllen wird. Was ich bei den musikalischen Proben habe hören können, war mehr als ermutigend. Wir wünschen ihm viel Erfolg.«
Auch Takahashi verneigte sich, trat aber sofort wieder bescheiden nach hinten. Das war die höfliche Zurückhaltung, die seiner Kultur zu Eigen ist, sagte sich Kilian. Das Publikum durfte gespannt sein, wie er damit die herausragende und treibende Rolle eines Verführers umsetzen
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