Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
wirklichkeitsnäher sie agierten und je weniger sie sie spielten, desto größer wurde die Substanz ihres Tuns. Dies hatten sie allein der Führung Raimondis zu verdanken, und waren seine Anweisungen anfänglich auch noch so verwirrend, teils sogar beleidigend, so entlockte er ihnen eine Authentizität, die schlichtweg begeisterte. Kilian war gespannt, wie lange das gut gehen würde. Die Premiere war in wenigen Tagen. Bis dahin konnte noch viel geschehen.
Raimondi beendete den ersten Teil der Probe und schickte alle in eine zwanzigminütige Pause. Kilian forderte seinen Kollegen auf, der inzwischen aus der Pause zurückgekehrt war, Raimondi zu folgen. Er sollte ihn vertreten, da Kilian noch einige Gespräche zu führen hatte. Er war nicht begeistert, Raimondi auch nicht. Ab jetzt hatte er einen Schatten, der nicht mehr von ihm weichen sollte.
Kilian schnappte sich Jeanne, die Inspizientin, bevor sie sich, wie alle anderen auch, auf den Weg in die Kantine machte.
»Sie rauben mir meine Mittagspause«, maulte sie ihn an. Doch er bestand darauf. Er musste wissen, warum sich die Querstange, die Raimondi fast getötet hätte, verselbständigt hatte.
»Die Servicetechniker waren hier«, begann sie, »und haben die ganze Anlage überprüft. Sie konnten keine Fehlerursache erkennen.«
»Wie kann sich dann die Stange gelöst haben? Gibt es da nicht so eine Art Sicherung?«
»Doch, und das ist ja genau das Problem. Ich kann nicht nachvollziehen, wie das geschehen konnte.«
»Hat sich vielleicht jemand daran zu schaffen gemacht?«
»Unwahrscheinlich. Dann wäre er bestimmt einem der Techniker über den Weg gelaufen.«
»Es herrschte während der Umbauphase ein ziemliches Durcheinander. Da kann jemand ungesehen …«
Sie unterbrach ihn schroff: »Es gibt hier kein Durcheinander. Wir haben alles im Griff. Für einen Außenstehenden mag das vielleicht so aussehen, aber …«
Jetzt fuhr Kilian ihr in die Parade: »… passieren kann es trotzdem. Würde es auffallen, wenn sich jemand aus dem Haus dort oben im Schnürboden aufhält?«
Jeanne musste klein beigeben. »Je nachdem, wer von den Technikern wo was zu tun hat. Und wenn es jemand aus dem Haus ist, käme es darauf an, ob es normal ist, dass er öfters dort oben zu tun hat.«
»Wie zum Beispiel?«
»Es finden regelmäßig Führungen für Schüler und Vereine im Hause statt. Hin und wieder geht einer der Führer mit ein paar Leuten dort hoch.«
»Wer sind die Führer?«
»Aus den Sparten Musik, Schauspiel und Ballett werden Mitarbeiter abgestellt, die das dann übernehmen.«
»Gibt es eine Liste?«
»Da fragen Sie am besten im KBB nach. War’s das jetzt?«
Jeanne blickte genervt auf ihre Uhr.
Eine Frage hatte er noch. »Hat sich inzwischen geklärt, wie diese seltsamen Durchsagen zustande kommen?«
Mit dieser Frage traf er ihren wunden Punkt. Sie errötete leicht, presste ein verhaltenes »Nein« heraus.
»Das heißt, Sie wissen immer noch nicht, wer Ihre Anlage manipuliert?«
»Die Techniker haben alles überprüft. Von außen kommt man nur über eine Standleitung herein. Diese führt vom Servicerechner direkt hierher. Dazwischen ist ein Eindringen unmöglich. Das haben mir die Techniker geschworen.«
»Wie ist es dann möglich?«
»Ich weiß es nicht!«, schnauzte sie ihn an, bereute es aber sofort. »Entschuldigen Sie, aber ich bin mit der Sache nahe an einem Nervenzusammenbruch. Es ist einfach rätselhaft, wie das passieren kann. Seit zwei Stunden gehen die Servicetechniker alle Leitungen
und Lautsprecher durch. Sie haben mir versprochen, wenn sich da einer dazwischengeschaltet hat, dann finden sie es.«
Kilian ließ es dabei bewenden, rang ihr aber noch das Versprechen ab, ihn zu informieren, egal wie die Inspektion ausgehen würde. Sie stimmte zu, drehte den Schlüssel an der Anlage, sodass das ganze Pult ausgeschaltet war. Niemand sollte jetzt mehr unbefugt etwas damit anstellen können. Ob das zutraf, wusste er nicht, er entnahm es ihrem Blick.
Bevor sich Jeanne in die verbliebene Pause begab, bat er sie, ihm den Weg hinauf in den Schnürboden zu erklären. Widerwillig tat sie es, fügte aber hinzu, dass Unbefugte dort oben nichts verloren hätten.
Über ein zweites Treppenhaus, das Kilian bisher nicht aufgefallen war, kam er in den dritten Stock. Das Theater verfügte also an zwei gegenüberliegenden Seiten über Treppenhäuser, die auf den jeweiligen Stockwerken miteinander verbunden waren. Dieser Umstand machte seine Hoffnung auf eine
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