Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
Das sollte der neue Intendant, der für die nächste Spielzeit noch gesucht wurde, mitentscheiden. So hieß es offiziell. Doch konnten die Stadträte auch ohne neuen Intendanten Zahlen lesen.
Im Grunde genommen, und diese Stimmen wurden lauter, konnte sich die Stadt ein Dreispartenhaus nicht mehr leisten. Ein bespieltes Haus mit einer Grundbesetzung an Personal oder gar eine vorübergehende Schließung waren Alternativen. Mit dieser Aussicht hielt es keinen Künstler mehr lange. Doch wohin? Aus der einst blühenden Theaterlandschaft, für die Deutschland lange Jahre berühmt war, war eine Geisterstadt geworden.
Sicher war, dass das Orchester von Kürzungen verschont würde. Es war die Perle, das Tafelsilber des Hauses. Blieben also die Sparten Ballett, Schauspiel und der umfangreiche Personalkörper von rund dreihundert Leuten. Etliche Produktionen, die für die nächste Spielzeit geplant waren, standen auf der Abschussliste. Manch einer vermutete, dass es vor allem die anspruchsvolleren Stücke treffen würde. Operette und klassisches Schauspiel galten als unabdingbar für die kulturelle Grundversorgung der Bürger. Experimentelles, Mutiges, Neues hingegen würde sich zukünftig an anderen Bühnen bewähren müssen. Das Risiko einer Pleite war zu groß. Der Slogan der Stadtwerbung: Helle Köpfe bleiben hier (in Würzburg), der im Jubiläumsjahr über die ganze Stadt plakatiert war, konterkarierte diese Entwicklung. Wer hell war, machte sich aus dem Staub. Wen es heute nicht erwischte, der würde morgen das Fürchten lernen.
Die Zehn-Uhr-Probe war wegen der Betriebsversammlung um eine Stunde nach hinten verlegt worden. Kilian begleitete Raimondi durch die verwaisten Werkstätten des Theaters. Er kontrollierte das neue Bühnenbild für den
Don Giovanni
, das er in Auftrag gegeben hatte. Kilian trottete ihm hinterher, die Frankfurter Allgemeine in der Hand, während Raimondi Änderungswünsche in die ausliegenden Pläne eintrug. In der Malerwerkstatt griff er zum Pinsel und fügte hier und da Farbe auf die am Boden liegende Leinwand. Sie stellte die nächtlich beleuchtete Skyline einer Großstadt dar. Es war nicht Würzburg, sondern eine Metropole mit Hochhäusern und einem nie enden wollenden Straßennetz, illuminiert von Autoscheinwerfern und Rücklichtern, die wie Glühwürmchen im Dunkeln funkelten.
Eine Schlagzeile in der Zeitung ließ Kilian aufmerken. Tollhaus statt Theater. Spielt Raimondi das alte Spiel?, las er. In dem Artikel wurde gemutmaßt, dass Raimondi zur Aufwertung der Inszenierung des
Don Giovanni
in Würzburg auf das bewährte Mittel des Skandals zurückgriff. Dass keine Klarheit in die beiden Anschläge auf Raimondi kam, bei denen ein Reporter sein Leben lassen musste, gab mancher Spekulation Vorschub. Dies sei in erster Linie der schleppenden Ermittlungsarbeit der Würzburger Behörden zuzuschreiben.
Eine Stimme, die der Isabella Garibaldi, vermutete dasselbe abgekartete Spiel, wie es Raimondi in den neunziger Jahren an der Semperoper in Dresden aufgeführt hatte. Auch dort sei ein Skandal inszeniert worden, wenngleich nicht mit tödlichem Ausgang wie in Würzburg. Es zeige sich jedoch abermals, dass man in Raimondi zwar einen beeindruckenden Regisseur verpflichten konnte, aber gleichzeitig seine eigensinnige und unberechenbare Arbeitsweise in Kauf nehmen musste. Nach dem Grund ihrer Anwesenheit in Würzburg befragt, erklärte die Garibaldi, sie stehe in Vertragsverhandlungen mit der Sopranistin Aminta Gudjerez, die in der nächsten Spielzeit das Publikum in Zürich begeistern würde.
Kilian zeigte Raimondi den Artikel.
Er lächelte. »Auch schlechte Nachrichten sind Nachrichten. Und ob die Gudjerez tatsächlich in Zürich spielen wird, darauf würde ich nicht wetten.«
Mehr hatte er zu den Vorwürfen nicht zu sagen. Kilian hakte nach: »Haben Sie Steven Vanderbuilt seit dem Vorfall in Dresden nochmal getroffen?«
»Nein, es blieb bei dieser einmaligen Zusammenarbeit.«
»Was war das für ein Gefühl, als Sie ihn hier in Ihrer Produktion wieder gesehen haben?«
Raimondi stutzte. »Was für ein Gefühl das war? Keines, überhaupt nichts. Es geht hier ums Geschäft. Gefühle haben da nichts verloren.«
»Sie wollen also nichts gefühlt haben, als Sie dem vermeintlichen Giftmischer begegnet sind? Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Wieso ›vermeintlich‹?«
»Es wurde niemals bewiesen, dass Vanderbuilt tatsächlich derjenige war, der Sie vergiften wollte.«
»Wer sollte es sonst gewesen
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