Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
Meinung nach; die der anderen interessierte ihn ohnehin nicht. Zögerlich, mit gesenktem Haupt und schleppendem Schritt kamen sie der Aufforderung nach.
Raimondi drängte zur Eile. »Wir proben Szene zwölf, erster Akt.
Non ti fidar
11 . Auf der Bühne sind Donna Anna, Donna Elvira, Don Ottavio und
Don Giovanni
. Beeilung, meine Herrschaften, wir haben nicht ewig Zeit.«
Jeder nahm seinen Platz ein.
»Wenn wir so weit sind …«
Raimondi gab den Einsatz an Pohlmann weiter, dieser an Sue. Nach einem Augenblick der Stille setzte das Klavierspiel ein.
Die neue Donna Elvira, Debbie Reynolds, begann eindringlich, die Donna Anna zu beschwören. In ihrem
Non ti fidar
nahm sie die Donna Anna vor dem Betrüger
Don Giovanni
in Schutz. Sie war dabei so spontan und überzeugend, dass Kayleen im ersten Augenblick unsicher wirkte und einen Schritt zurücktrat.
»Aus!«, kam es auf die Bühne.
»Was ist los mit der Donna Anna? Wieso flüchtet sie?«, fragte Raimondi.
Kayleen war nicht bei der Sache. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Kleinlaut gab sie zu: »Tut mir Leid. Noch einmal bitte.«
Raimondi nahm es reaktionslos hin. »Ihr habt es gehört. Bitte sehr.«
Erneut begann die Donna Elvira. Diesmal war die Donna Anna zwar vorbereitet, aber sie stimmte mit dem Don Ottavio nicht gleichzeitig ihren Part an.
»Aus!«
Raimondi kam auf die Bühne und Kayleen erstaunlich nahe. So nahe, wie sie wahrscheinlich in den vergangenen Tagen Raimondi niemals hätte kommen lassen. Irgendetwas schien in ihr vorzugehen. Auch Raimondi verhielt sich überraschenderweise nicht so, wie man es von ihm hätte erwarten können.
»Was ist los?«, fragte er sie fürsorglich.
»Nichts, nichts«, winkte sie ab, »es ist nur … ach, vergessen Sie’s. Noch einmal bitte.«
Der dritte Anlauf verlief besser. Das Zusammenspiel klappte gut. Auch als Takahashi als
Don Giovanni
ins Quartett mit einstimmte, merkte man, dass er nachts zuvor mit jemandem aus dem Schauspiel geübt haben musste. Seine Gesten waren überzeugend, besonders in der Szene, als er die Donna Elvira bedrängte zu schweigen.
Doch etwas stimmte immer noch nicht. Und zwar mit der Donna Anna. Sie gab sich alle Mühe, doch ihre Stimme war blass, ihr Spiel an der Grenze zum Ärgernis. Raimondi ließ es laufen, bis ganz zum Schluss der Szene.
In die Stille des verklingenden letzten Tones hinein ging er ruhig an den Bühnenrand und blickte nach oben.
Fast bedächtig fragte er: »Was ist mit der Donna Anna heute los? Hat sie keine Lust zu arbeiten, oder was ist ihr aufs Gemüt geschlagen?«
Jeder, der Kayleen und ihre Art kannte, erwartete nun einen bissigen Kommentar. Stattdessen: »Es tut mir Leid. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.«
»Woran liegt es?«, fragte Raimondi.
Kayleen rang um Worte. »Wie kann man seiner Arbeit noch nachgehen, wenn man weiß, dass sie vielleicht gar nicht mehr zur Aufführung kommt. Ich kann das jedenfalls nicht.«
»Glauben Sie im Ernst, ich würde hier noch stehen, wenn der
Don Giovanni
gestrichen würde?«
»Und was passiert danach … mit uns? Wir sind doch alle so gut wie arbeitslos. Die Oberbürgermeisterin hat es gesagt: Wenn kein Wunder geschieht, dann bleibt das Haus nach der Sommerpause geschlossen.«
Kayleen sprach das aus, was offensichtlich jeden fest engagierten Künstler und Angestellten des Mainfrankentheaters seit der Betriebsversammlung beschäftigte. Die Frage nach der Zukunft.
Raimondi ließ ihre Worte im Raum stehen. Nach einer Weile der Stille versuchte er ihr klar zu machen, dass sich einiges ändern würde, ja, ändern müsste. Nicht ohne Grund war das Haus in Not geraten, und es stand in Deutschland nicht allein. Andere Häuser teilten dasselbe Schicksal, aber auch die gleiche Herausforderung.
»Die fetten Jahre sind vorüber«, sagte er ruhig. »Wer oder was auch immer dafür die Verantwortung trägt, ist für unsere Situation zweitrangig. Entscheidend ist, dass Sie und alle am Haus Beschäftigten eine neue Einstellung zu Ihrem Beruf bekommen. Sie werden zukünftig nicht mehr davon ausgehen können, dass ein festes Engagement, sofern das überhaupt noch möglich ist, automatisch Absicherung für ein Jahr oder länger bedeutet.
Stellen Sie sich auf Projektarbeiten ein, die Sie zwingen, oft den Ort und das Fach zu wechseln. Wenn Sie dann noch Glück haben, bei einer Produktion zu landen, die gut organisiert, stimmig durchkalkuliert und erfolgreich vermarktet ist, haben Sie die Chance, weiter in Ihrem Beruf zu
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