Der Gesang der Maori
Zukunft bin ich wohl einfach eingeschlafen. Ich bin
erst in der Morgendämmerung aufgewacht â weil es unangenehm nass war und mein
Bauch wehtat. Aihe hatte sich auf den Weg gemacht, meine Wehen hatten begonnen.
Ihr müsst euch vorstellen, dass das noch die Zeiten waren, in denen nicht jeder
ein Telefon hatte â und ein Handy gab es schon gar nicht. Ich konnte nicht einfach
um Hilfe rufen. Ein paar Minuten lag ich also da und geriet in Panik. Ich
musste meine Hebamme rufen â aber wie? Also habe ich mich zusammengerissen, mir
etwas angezogen und bin die Treppen von meinem Zimmer wieder nach unten
geklettert. Dabei hat mich wohl meine Vermieterin gesehen. Sie bemerkte auch,
dass irgendetwas nicht stimmte. Als ich ihr erklärte, dass meine Wehen
losgegangen waren, führte sie mich wieder zurück in mein Zimmer â und hat sich
darum gekümmert, dass meine Hebamme Bescheid wusste. Ein paar Minuten später
war sie da. Die alte Moana hatte in Kaikoura schon eine Menge Babys auf die
Welt gebracht. Und ganz bestimmt jedes einzelne Maori-Baby. Sie hat mich kurz
abgetastet und dann aus ihren alten Augen angesehen. Wollte wissen, warum
dieses Kind ein paar Wochen zu früh auf die Welt kommen wollte. Ob ich die Treppen
hinuntergestürzt sei oder etwas Ãhnliches. Was sollte ich tun? Ich erzählte ihr
von mir und John und meiner Entdeckung auf dem Supermarkt-Parkplatz. Moana
setzte sich auf meine Bettkante und nahm meine Hand in die ihre. Eine Zeit lang
hat sie einfach nur meine Hand gehalten â und dann hat sie angefangen zu reden.
Â
Als
unsere Vorfahren den Wal bestiegen, um zu neuen Ufern aufzubrechen, da haben
sie nur an ihre Zukunft auf einer fernen Insel gedacht. Es war nicht mehr
wichtig, was sie in ihrer alten Heimat getan hatten â wer viel Besitz hatte und
wer ein Habenichts war. Sie wollten eine neue Zukunft und warfen keinen Blick
zurück. Denn das ist das Einzige, was wichtig ist: Das, was vor uns liegt.
Alles, was hinter uns liegt, ist vorbei. Wir können es nicht mehr ändern, auch
wenn wir es uns wünschen. Die Zukunft können wir gestalten, die Vergangenheit
können wir nur betrauern.
Â
Ich hörte ihr zu, immer wieder von Wehen geschüttelt. Mit
einem Mal erschien mir alles klar. Ich musste mich nicht von John trennen, bloÃ
weil er in der Vergangenheit eine Zeit lang ein oberflächlicher, versoffener
Idiot gewesen war. Ich hatte einen groÃartigen Mann gefunden â und ein Teil
unserer gemeinsamen Zukunft drängte gerade auf die Welt. Noch bevor Aihe ihren
ersten Schrei machte, hatte ich mich entschieden: Ich wollte John wiedersehen,
mit ihm zusammenleben. Und noch während ich keuchte und schrie, damit Aihe auf
die Welt kommen konnte, bat ich Moana, nach der Geburt im Foodmarket anzurufen
und John Bescheid zu geben, dass er Vater geworden war â und bitte sofort zu
mir nach Kaikoura kommen sollte.«
Paikea lächelte bei der Erinnerung.
»Und so geschah es. Aihe kam mit einem dicken, dunklen Haarschopf auf die Welt,
John erfuhr von seinem Glück, und nur zwölf Stunden später stand er an meinem
Bett, nahm sie in den Arm und machte mir einen Heiratsantrag. Es war nicht sein
erster und ganz gewiss nicht sein letzter â aber es war sein schönster. Damals
nahm er auch den Tiki aus Walknochen aus seiner Tasche und hat ihn mir geschenkt.
Er hatte ihn wohl schon Wochen vorher bei einem Bone Carver in Auftrag gegeben
und immer bei sich getragen, damit er ihn mir bei der Geburt umhängen konnte.
Das hat nicht geklappt â aber bei den vier folgenden Geburten hat er mir immer
Kraft gegeben.« Sie lachte. »Das ist also die Geschichte, wie John und ich zu
einem unverheirateten Skandalpaar wurden. Wir beide sind einen langen Weg
gegangen â aber von diesem Tag an haben wir immer nur nach vorn gesehen. Von
seiner Familie haben wir wenig gesprochen, vielleicht auch deswegen. Er hat mir
ein einziges Mal die komplette Geschichte erzählt, das war alles. Dabei hat er
die Cavanaghs immer von ferne beobachtet â¦Â«
»Was?«, riefen Katharina und Matiu wie aus einem Mund.
Paikea nickte. »Aber sicher. Er hatte doch Fiona â¦Â«
»Fiona?« Katharina runzelte die Stirn. Hieà so nicht die ältliche
Haushälterin von George Cavanagh? Sie war seit Jahrzehnten bei ihm angestellt
und hielt laut Brandon heimlich alle Fäden in der Hand. Aber konnte es wirklich
sein, dass
Weitere Kostenlose Bücher