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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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miteinander
anstoßen! Auf die Gesundheit! Und Hamburg!«
    Klirrend stießen die Gläser aneinander. John spürte den Schnaps in
seiner Kehle brennen und unterdrückte mit Mühe ein Husten. Für eine Sekunde
wünschte er, er hätte etwas mehr Geld in diesen Schnaps investiert.
    Sein Gastgeber sah ihn jetzt neugierig an. »Niemand schenkt mir
meinen Klaren ohne einen Grund. Was wollen Sie wissen? Und – wo kommen Sie her?
Ihr Deutsch hat einen eigenartigen Akzent!«
    Â»Ich bin Neuseeländer«, erklärte John. »Meine Mutter war für ein
paar Jahre in Neuseeland, aber als ihr Mann starb, ließ sie mich in Neuseeland
zurück und kehrte nach Deutschland zurück. Das Einzige, was ich gefunden habe,
ist eine Eintragung bei der Meldebehörde unter dieser Adresse.«
    Â»Ich kann mich nicht an jeden Gast erinnern, der in den zehn Jahren
in der Pension Schöler gelebt hat«, begann der Alte. »Ich habe nachts gearbeitet,
da habe ich nicht einmal alle gesehen. Ihre Mutter …« Drossmann brach ab und
musterte sein Gegenüber noch einmal genauer. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich
weiß nicht. Haben Sie ein Bild von ihr? Vielleicht würde das helfen. Wie hieß
sie denn?«
    Â»Eva Erhardt. Ein Bild habe ich leider nicht. Aber mein Ziehvater
hat mich oft beschimpft, weil ich ihr so ähnlich sehen würde. So sehr eben ein
Mann einer Frau ähneln kann.« Er versuchte ein schiefes Lächeln. »Und ich nehme
an, dass meine Mutter sich nicht irgendwann die Nase gebrochen hat!«
    Drossmann rückte auf seinem Stuhl bis auf die Kante vor und beugte
sich weit nach vorn, um John noch einmal genauer anzusehen. »Diese Augen …«,
murmelte er leise. »Ich kann mich irren, aber da war diese Frau – 1935
oder 1936.
Sie sah so traurig aus. Und wollte über nichts in ihrer Vergangenheit reden.
Dabei war sie eine Hamburgerin, das hat man gehört, sobald sie den Mund
aufgemacht hat. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß. Hat zwei oder drei Monate
bei uns gewohnt. Suchte eine Arbeit als Haushälterin oder so. Und eines Abends,
als ich zur Arbeit kam, war sie weg. Warum sollte sie sich auch von einem
Nachtconcierge verabschieden? Wahrscheinlich hat sie kaum gemerkt, dass ich mir
Sorgen um sie gemacht habe. Ist jede Nacht rumgelaufen. Hat immer gesagt, dass
sie noch einen Spaziergang macht, weil sie nicht schlafen kann. Sie sah immer
so aus, als ob sie mit ihrem Leben nichts mehr anfangen könnte …« Der alte Mann
hörte auf zu reden und sah sinnend in sein leeres Schnapsglas.
    John bezähmte seine Ungeduld nur für einen kurzen Moment. »Und Sie
glauben wirklich, das könnte meine Mutter gewesen sein? Wissen Sie denn, wo sie
hin ist, als sie aus der Pension ausgezogen ist?«
    Drossmann schüttelte den Kopf, griff zur Flasche und füllte sich
sein Glas bis zum Rand. Dann nahm er einen großen Schluck. Starrte etwas vor
sich hin und nahm noch einen. John musste sich beherrschen, um ihn nicht zu
schütteln. Konnte es sein, dass er sich jetzt einfach betrank und womöglich
eine wichtige Information nicht mehr herausrückte? Drossmann leerte innerhalb
weniger Minuten das ganze Glas. Dann griff er erneut zur Flasche, füllte sein
Glas noch einmal – doch dieses Mal schenkte er auch John einen nicht zu knapp
bemessenen Schluck ein.
    Â»Sie wollen also wissen, wo sie hin ist? Sie hat gesagt, sie will
nach Berlin. Hat etwas von einem neuen Leben und Geistern, die man hinter sich
lassen muss, erzählt. Keine Ahnung, was sie hier in Hamburg gefürchtet hat.
Aber sie wollte weg. Ich hoffe, sie hat ihr Glück gefunden.« Drossmann sah John
noch einmal genau an und nickte. »Ja, Sie könnten wirklich ihr Sohn sein. Die
gleichen Lippen – und vor allem: diese Augen … An die muss man sich als Mann
doch einfach erinnern. Mal grün, mal blau – so wie das Meer, wenn das Wetter
sich ändert. Schöne Frau.« Mit diesem letzten Satz setzte er das Glas an seine
Lippen und kippte den kompletten Inhalt in seinen weit geöffneten Mund. Dann
fiel sein Kopf nach vorn, und er fing an zu schnarchen.
    John sah diesem Schauspiel fassungslos zu. Er hatte nicht geahnt,
dass man solche Mengen Schnaps in so kurzer Zeit in sich hineinkippen konnte –
und er hatte es auch noch nie erlebt, dass ein Mann so schnell und ohne
Vorankündigung einfach einschlief. Vorsichtig stellte er sein

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