Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
Vom Netzwerk:
1953

    5.
    John sah sich die Adresse
genauer an. Altona – war das weit? Er kramte den zerfledderten Straßenplan von
Hamburg heraus, den ihm Frau Heidekamp am Morgen zugesteckt hatte. Dann stand
sein Entschluss fest: Da konnte er noch am selben Tag hinlaufen.
    Der Nachmittag war noch nicht zu
Ende, als er in die Waterstraße einbog. Unter der Nummer 24 stand ein unversehrter Altbau, eine
Seltenheit in Hamburg. Eine Pension war das Gebäude allerdings nicht mehr. John
las gerade suchend die Namensschilder durch, als ein Mann Anfang vierzig durch
die Tür trat, ihn misstrauisch musterte und schließlich knurrte: »Suchen Sie
jemand Bestimmten?«
    John nickte. »Vor dem Krieg muss hier eine Pension gewesen sein.
Meine Mutter war hier gemeldet, dann hat sich ihre Spur verloren. Ich versuche
herauszufinden, wo sie geblieben ist. Leider sieht das hier aus wie eine
Sackgasse …«
    Der Ausdruck in den Augen des Mannes wurde mitleidig. »Das fürchte
ich auch. Nach den Bombenangriffen wurden hier eine Unzahl Menschen einquartiert,
seit vier Jahren leben hier ganz normale Mietparteien. Ganz sicher niemand, der
vor dem Krieg hier gewohnt hätte. Bis auf …« Er zögerte.
    Â»Ja? Gibt es doch jemanden?« Seine Stimme wurde bittend. »Ich möchte
nur nicht das Gefühl haben, dass ich irgendetwas unversucht gelassen habe, um
meine Mutter zu finden.«
    Â»Wann war das denn? Im Hinterhaus lebt in der Mansarde der alte
Drossmann. Der war Nachtconcierge in der Pension Schöler. Von 1930
bis zum Ausbruch des Krieges. Der erinnert sich aber nicht mehr an viel. Und
wenn, dann immer an das Falsche, die kleinen Details, die keiner wirklich
wissen will.«
    John spürte, wie eine winzige Hoffnung sich in seinem Inneren
breitmachte. »Ist dieser Herr Drossmann da?«
    Â»Ja«, nickte der Mieter. »Das ist er sicher. Aber um diese Zeit
sollten Sie ein kleines Gastgeschenk mitbringen. Einen Korn oder einen anderen
Klaren … das bringt ihn zum Reden. Und zu viel Hoffnung will ich Ihnen auch
nicht machen. Es könnte sein, dass er nichts weiß. Es sind verdammt viele Jahre
vergangen, viel Zeit, in der etwas passieren kann, viel Zeit, um all diese
Dinge, die man mal gewusst hat, wieder zu vergessen.«
    Â»Wo bekomme ich hier in der Nähe einen Schnaps?« Eifrig wollte John
sich auf den Weg machen.
    Der Mieter lachte. »Na, Sie können es wohl gar nicht erwarten.« Er
deutete die Straße entlang. »Da hinten finden Sie einen kleinen Laden. Der hat
alles, sicher auch einen einfachen Klaren. Investieren Sie nicht zu viel Geld,
dem Drossmann geht es nur um den Stoff, nicht um die Qualität.« Bei dem Satz
zeigte sich wieder fast etwas wie Mitleid in seinem Gesicht.
    Nur eine halbe Stunde später klopfte John mit der Flasche in einer
Papiertüte an die abgeschabte Lacktür direkt unter dem Dach des Hinterhauses.
Angespannt lauschte er ins Innere. Nichts. Erst als er etwas energischer
klopfte, hörte er das Knarzen eines Stuhls, der zurückgeschoben wurde. Langsame
Schritte näherten sich der Tür, John hörte, dass der alte Mann stark hinkte. Es
schien ihm eine Ewigkeit, bis sich die Tür öffnete und ein magerer, alter Mann
mit einer Habichtsnase und rot geäderten, dunklen Augen ihn ansah. Er hielt
sich nicht lange mit Höflichkeiten auf. »Was wollen Sie?«
    John ließ sich so kurz vor seinem Ziel nicht mehr durch die
Unfreundlichkeit eines einzigen Mannes von seinem Ziel abbringen. Er holte den
Schnaps aus der Tüte und reichte ihn dem alten Mann wie eine Eintrittskarte.
»Ich habe gehört, Sie freuen sich über so etwas!«
    Der Mann griff zu und trat zur Seite. »Ich weiß zwar immer noch
nicht, was Sie eigentlich wollen, aber ein Besuch, wie Sie es sind, ist mir
immer willkommen!«
    John folgte ihm in ein kleines Zimmer, das unter der Dachschräge
lag. Ein großes Fenster ließ überraschend viel Licht herein – und nach den
Warnungen des Mieters hatte John mit sehr viel mehr Verwahrlosung gerechnet.
Tatsächlich war die kleine Mansarde aber penibel aufgeräumt, alles schien an
seinem Platz zu liegen. Mit einer fast eleganten Geste bedeutete Drossmann ihm,
sich auf die Couch zu setzen. Er selbst holte zwei einfache Wassergläser, schenkte
sie halb voll mit dem Schnaps und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Dann
erhob er sein Glas. »Bevor Sie mich viel fragen, sollten wir

Weitere Kostenlose Bücher